Kann ein Porträt die Essenz eines Menschen, vielleicht sogar seine Seele einfangen? „Nein“, sagt Martin Schoeller. „Alle Porträts lügen auf gewisse Weise. Ein Foto ist nur der Bruchteil einer Sekunde, die vom Fotografen frei gewählt worden ist. Von einem Menschen, der den anderen Menschen eigentlich gar nicht kennt. Ein Porträt hat mit der Person, die es zeigt, meist nicht viel gemein.“ Bei Schoellers Porträts ist das allerdings eindeutig anders. Wie schafft er das? Was treibt ihn an? „Ich bin immer auf der Jagd nach der ehrlichen Sekunde. Nach dem echten Gesicht. Ich möchte die Leute nicht vor allem gut aussehen lassen, sondern objektive Bilder schaffen – zumindest welche, die weniger lügen als andere. Dafür arbeite ich genau auf den Moment hin, in dem die Leute hellwach sind, etwas Offenes, Intimes von sich preisgeben. Insofern sehe ich mich auch als Chronist.“
Der „knallharte Demaskierer“, wie das deutsche Magazin Geo den 48-Jährigen nennt, schießt keine Fotos. Schoeller nimmt seine Motive unter die Lupe. Er liest in ihren Gesichtern und schafft so fotografische Ornamente. Seinen Shootings gehen meist intensive Recherchen voraus. Er studiert die Protagonisten, sieht sich Filme und Talkshows an, liest Interviews. Er hofft, dass seine Fantasie auf Touren kommt, ihm ein gutes Motiv einfällt und beim Shooting die Gesprächsthemen nicht ausgehen. „Wenn ein Porträtfotograf aufhört zu reden, hat er verloren“, ist er sich sicher.
Schoellers Motive erzeugen mediale Wucht
Oft wundert und freut ihn, was Megastars und Mächtige so alles mitmachen vor der Kamera: Bill Clinton spielte im Nebenzimmer des Oval Office Golf, Quentin Tarantino ließ sich in eine Zwangsjacke stecken und Komiker Steve Carell das Gesicht mit Tesafilm verkleben. Schoeller hat immer vier, fünf Motive im Kopf – und fängt stets mit dem harmlosesten an. Das ist sein Trick. Wenn die Stimmung am Set gut und das Vertrauen da ist, kommt er mit den mutigeren Ideen. Und viele Protagonisten machen dann mit. Weil sie wissen, welche mediale Wucht ein spektakuläres Schoeller-Foto entwickeln kann.
Manche jedoch scheuen die Nähe und Intensität, die der Fotokünstler erzeugt: Sängerin Mariah Carey und Schauspieler Tom Cruise zum Beispiel lehnten ihn als Fotografen ab. Ex-Bond-Darsteller Pierce Brosnan hingegen hat ihn angerufen und darum gebeten, von ihm fotografiert zu werden. Oft hat Schoeller das Problem, dass seine Objekte Stunden beim Visagisten sitzen und dann nur wenige Minuten für die Fotosession bleiben. Bei Lady Gaga war das so. Bei Uma Thurman auch. Nicht seine besten Bilder.
Oder Schoeller schafft es nicht, das Posing seines Gegenübers zu durchbrechen: „George Clooney ist so ein Kandidat. Der ist immer höflich, lustig, macht alles mit, aber eine halbwegs ehrliche Sekunde habe ich bei ihm noch nie erwischt. Weil er das Posieren nicht lassen kann.“ Bei einem Shooting mit Hollywoods Charmeur hat Schoeller Clooney überrascht. Er hat eines seiner früheren Porträts von Clooney genommen, die Partie zwischen Nase und Stirn herausgerissen, ein Gummiband daran befestigt und dem Schauspieler wie eine Maske vors Gesicht geschoben. Clooney fand es witzig, so fotografiert zu werden. Das Bild (siehe Seite 4) ging um die Welt. In seinem verblüffend simplen Ministudio mit den schwarzen Vorhängen saßen neben diversen Hollywood-Stars auch Taylor Swift, Justin Timberlake und Iggy Pop. Oder Politiker wie Barack Obama, Hillary Clinton und Angela Merkel. Schoeller weiß, was Macht mit dem Minenspiel macht.
Selbst Spitzenathleten kennen das Gefühl, wenn Schoellers Kamera sich ihnen auf Armlänge nähert: Pelé, Franz Beckenbauer, Sprinter Usain Bolt und Weltfußballer Lionel Messi. Aber noch nie hatte Schoeller Sportler während oder unmittelbar nach einem Wettbewerb fotografiert. Wenn ihnen Anspannung oder Erleichterung, Freude oder Frust ins Gesicht geschrieben stehen. Er ist sich sicher, dass Adrenalin den Ausdruck schärft.
Der Blick hinter die Fassade
Schoeller, in München geboren, in Frankfurt aufgewachsen und seit fast einem Vierteljahrhundert in New York lebend, studierte Fotografie beim Lette-Verein in Berlin. Er arbeitete vier Jahre als Assistent von Annie Leibovitz in New York, der vielleicht berühmtesten Fotokünstlerin unserer Epoche. Und er war zwölf Jahre Vertragsfotograf beim New Yorker. Für das Magazin arbeitet Schoeller noch immer, regelmäßig auch für Time, National Geographic, Rolling Stone, GQ oder Forbes. Für sein Markenzeichen, die Close-ups, verwendet der Starfotograf weiches Neonlicht. So entstehen die charakteristischen Katzenaugen. Die Perspektive ist stets dieselbe: ein klein wenig von unten fotografiert. Damit wurde er zu einem der bedeutendsten Porträtfotografen unserer Zeit.
Dieses Jahr hat Schoeller das 24-Stunden-Rennen von Le Mans besucht. Er war das erste Mal an einer Rennstrecke. „Ich wollte fühlen, verstehen und erleben, was dort geschieht. Wie erschöpft die Fahrer nach ihrem Einsatz sind. Wie enttäuscht, wenn sie verlieren. Und wie euphorisch, wenn sie gewinnen.“ Wie sieht der Rennfahrer aus, wenn er nach seinem Einsatz den Helm abnimmt? Was verraten seine Augen? Was machen Anspannung, Stress, Konzentration mit seinen 43 Gesichtsmuskeln? Wie verändert sich seine Gesichtsfarbe? Im Cockpit des mehr als 900 PS starken Porsche 919 Hybrid herrschen extreme Beschleunigungskräfte und sehr hohe Temperaturen. Der Flüssigkeitsverlust der Piloten am Steuer beträgt rund zwei Liter – pro Stunde.
Präzision, Professionalität, Schnelligkeit
Dort, am legendären Circuit de la Sarthe, wo Porsche am 19. Juni diesen Jahres vor 250 000 Zuschauern den 18. Gesamtsieg seiner Le-Mans-Geschichte feierte, entstand die Idee zu dem konkreten Projekt: Porträts der sechs LMP1-Werksfahrer beim darauffolgenden WEC-Rennen auf dem Nürburgring anzufertigen. Jeweils sofort nach dem Fahrerwechsel. Dann, wenn der Schweiß läuft, das Herz pumpt, das Adrenalin sprudelt, die Gesichter Bände sprechen.
Sie verbindet einiges an diesem Tag, die sechs Porsche-Rennfahrer und den Starfotografen: Präzision, Professionalität, Schnelligkeit. Und der Kampf um Sekunden, die den Piloten den Triumph bescheren – und dem Starfotografen ehrliche Fotos. Für Team 1 beginnt Timo Bernhard vor fast 60 000 Zuschauern, für Team 2 geht Neel Jani im Le-Mans-Siegerwagen als Erster an den Start des Sechs-Stunden-Rennens. Nach den Fahrerwechseln werden die Piloten gewogen, wenige Meter weiter nehmen sie in Schoellers Studio-Box direkt vor dem Porsche-Renntruck Platz.
Das Fotografieren geschieht stets nach dem gleichen Muster: Helm und Sturmhaube abnehmen. Offener Blick in die Kamera. Niemand tupft den Schweiß ab. Keiner richtet die Haare. Mark Webber sitzt mit ernstem Blick vor der Kamera. „Eben bin ich da draußen noch eine Stunde lang Achterbahn gefahren – und jetzt steht die Welt plötzlich still. Das habe ich in dieser Intensität noch nie erlebt“, sagt er. Für Brendon Hartley, rotes Gesicht, die Haare wirr, fühlt es sich ähnlich an: „Vollbremsung von 250 auf null. Mehr Entschleunigung geht nicht.“ Le-Mans-Sieger Marc Lieb streicht mit dem Zeigefinger über die linke Augenbraue und wirkt nachdenklich: „So gut wie in Frankreich läuft es nicht. Es ist ein unruhiges Rennen.“ Am Ende wird Team 1 (Webber, Bernhard, Hartley) gewinnen, Team 2 (Jani, Lieb, Dumas) wird Vierter.
Die Blicke spiegeln die Intensität des Rennens wieder
Die Piloten sind hellwach und offen und geben vor der Kamera tatsächlich etwas Intimes von sich preis. „Die Blicke der Fahrer sind fragend, neugierig, entschlossen, sie spiegeln die Intensität des Rennens wider. Man sieht jedem Einzelnen den Rennverlauf an“, resümiert der Fotograf, der den Wettkampf zwischen den Shootings am Monitor im Renntruck verfolgt. „Ein Pilot ist genervt, weil er wegen einer Kollision eine Zeitstrafe kassiert hat, ein anderer hat ein erfolgreiches Überholmanöver hingelegt, vier Sekunden rausgefahren und jubelt innerlich. Und über Webbers abgekämpftes Gesicht huscht schon wenige Augenblicke nach dem letzten Fahrerwechsel, bei dem er an Timo Bernhard übergibt, das Siegerlächeln.“
Vom Circuit kreischen die Motoren herüber. Autogrammjäger warten vor der Box auf ihre Idole. Der erschöpfte Timo Bernhard vergewissert sich nach seinem zweiten Renn- und Fotoeinsatz bei Schoeller: „Das war es jetzt aber wirklich, oder? Versprich mir das!“ Schoeller lächelt, gibt ihm die Hand und klopft ihm mit der linken Hand auf die Schulter: „Ja, das war es. Und es war gut. Sehr gut.“
Info
Text erstmalig erschienen im Porsche-Kundenmagazin Christophorus, Nr. 378
Text: Jörg Heuer // Fotos: Martin Schoeller