Die wenigen Passanten, die sich in das ungemütliche Grau der niederländischen Nordseeküste hinausgewagt haben, werden belohnt. Der Wind peitscht, die Temperaturen gehen runter – eigentlich kein guter Tag für einen Spaziergang. Doch plötzlich ist der charakteristische Sound eines Porsche 356 A Coupé zu vernehmen. Dann passiert der porzellanweiße Klassiker den Korenmarkt in Hoorn, einer Kleinstadt nördlich von Amsterdam. Er macht Halt an einer der vielen Grachten, die denen der berühmten Hauptstadt in nichts nachstehen. Henk Spin hat gerade erst den Motor abgeschaltet, da zücken die ersten Spaziergänger schon ihre Smartphones. Ein 356, noch dazu in diesem Zustand, ist auch hier ein seltener Anblick. Doch dass gerade dieser Sportwagen nicht nur äußerst selten, sondern auch wirklich einzigartig ist, ahnt hier niemand.
Ein Porsche-Unikat voller Sonderwünsche
Spin, 65 Jahre alt und pensionierter Manager in der Luftfahrtindustrie, genießt es sichtlich, seinen Klassiker mal wieder für ein puristisches Fahrerlebnis aus der Garage zu holen. Denn der 356 ist ein Zeitzeugnis auf vier Rädern. Ein Unikat voller Sonderwünsche – aus einer Zeit, in der es bei Porsche noch gar keine offizielle Abteilung dafür gab. Und für Spin bedeutet der Wagen vor allem auch Lebenszeit. Mehr als 3.000 Arbeitsstunden hat der Niederländer in die Restauration gesteckt, über zehn Jahre hinweg hat er daran in seiner Werkstatt gearbeitet. Geplant war das ganz anders. „Ich habe mir den Wagen gekauft, weil ich einen klassischen 356 aus den 1950er-Jahren als Restaurationsobjekt haben wollte“, erzählt Henk Spin. „Doch als ich mit den Arbeiten begann, merkte ich, dass mit dem Wagen einiges nicht so war, wie es sein sollte.“
Um der Sache auf den Grund zu gehen, fährt Spin im Jahr 2008 nach Stuttgart, ins Unternehmensarchiv von Porsche – und findet mit Hilfe der dortigen Experten einen entscheidenden Hinweis. „Auf den Originalunterlagen des damals zuständigen Karosseriebauers Reutter stand etwas in Stenografie geschrieben, das zunächst niemand lesen konnte.“ Doch glücklicherweise hatte Spins Schwägerin Stenografie in der Schule gelernt. Sie konnte entziffern: „Reinhard Schmidt, Hannover“. Schnell lernt Spin von den Experten in Stuttgart, was das bedeutet: Dieser 356 ist einer von acht sogenannten Schmidt-Wagen, allesamt Einzelstücke, die in den 1950er- und 1960er-Jahren bei Porsche entstanden. Auf Wunsch von Reinhard Schmidt – mit einer Sonderwunschliste, die jeden Rahmen sprengt. Mit dem Besuch im Archiv beginnt für Spin ein Abenteuer, das ihn jahrelang faszinieren wird.
Wer war Reinhard Schmidt?
Und warum sorgt allein sein Name in offiziellen Fahrzeugdokumenten für Erregung? Schmidt arbeitete in den 1950er-Jahren für den Automobilzulieferer ATE. Nebenher verstand er sich als Versuchsingenieur und war – mehr oder weniger aus privatem Interesse – in der Erprobung von zum Teil eigenen Fahrzeugen, Motorenteilen und neuen Konstruktionen tätig. Durch seine Anstellung bei ATE pflegte er gute Verbindungen zu Volkswagen und Porsche, besaß nach eigener Aussage mehr als 20 VW Käfer, acht Porsche-Modelle sowie diverse Patente für den Automobilbereich. Auf seine besonderen Wünsche hin entstanden die acht Porsche-Fahrzeuge ab Werk, die ihrer Zeit voraus waren. Sportwagen mit zahlreichen und äußerst ungewöhnlichen Extras, die fast fiktional wirken. So auch das 356 A Coupé, das Henk Spin gerade über den Deich in Richtung Garage steuert.
Offizielle Dokumente belegen: Der Wagen mit der Fahrgestellnummer 102324 wird am 1. Februar 1958 per Werksverkauf an Reinhard Schmidt ausgeliefert. Damals wie heute arbeitet im Heck ein 75 PS starkes Aggregat aus dem 356 1600 Super. Spitzengeschwindigkeit: 170 km/h. Noch im selben Jahr erscheint in der Ausgabe 32 des Christophorus dazu eine Meldung, im Fokus steht eines der vielen Extras: „Neulich erst war ein Kunde im Werk und hat es sich einbauen lassen: Telefon im Porsche, Gespräche während der Fahrt mit zuhause, mit Geschäftspartnern (…)“, heißt es da. Dies sei jetzt auch in Deutschland möglich, unter 5.000 D-Mark solle man jedoch nicht anfangen zu kalkulieren. „Von der Post bekommt man eine eigene Welle zugeteilt, denn dieses Telefon funktioniert ja drahtlos“, liest man weiter. „Ja, auch als Privatmann ist man berechtigt, eine eigene ‚Telefonwelle‘ zu haben. An den diversen nicht-serienmäßigen Instrumenten des Armaturenbretts sehen Sie, dass dieser Wagen mit vielen Extras ausgestattet ist (…).“ So amüsant dieser Text fast 70 Jahre später klingen mag, so erzählt er doch Erstaunliches: Allein für die Telefonanlage war Schmidt bereit fast die Hälfte des Neuwagenpreises zusätzlich aufzubringen. Und das ist nur die kostspieligste von sehr vielen Einzelpositionen auf seiner Sonderwunschliste.
Maximale Leidenschaft für Porsche
Henk Spin parkt den 356 in seiner Werkstatt am Stadtrand. Vor dem Tor stehen, beide in Weiß, ein Macan (Baujahr 2018) und ein Cayman S (Baujahr 2006), neben dem 356 wartet auf der Hebebühne das nächste Restaurationsprojekt, ein 911 T (Ur-Elfer, Baujahr 1972). Zu Hause parkt zudem ein 911 Carrera S Cabriolet (991). Maximale Leidenschaft, die auch in der Werkstatt nicht zu übersehen ist. Selbst seine Werkzeuge hat Spin im klassischen Porsche-Rot lackiert, an der Wand hängen gerahmte Fotografien seiner Rallyeeinsätze. Oben im ersten Stock eine Wand voller historischer Rennplakate, eine weitere bietet Platz für rund 100 signierte Autogrammkarten von Rennfahrern. Porsche dominiert, selbst der ehemalige Rennfahrer und Christophorus-Chefredakteur Richard von Frankenberg ist hier verewigt. Im Büro zwei Regale voller Automobilbücher, anderer Porsche-Devotionalien und eine fast vollständige Christophorus-Sammlung, in der nur drei Ausgaben fehlen. Doch zum Staunen bleibt keine Zeit. Der Hauptdarsteller wartet unten.
Hilfe von Porsche Classic-Experten
„Als der Wagen, den ich von einem Restaurator aus dem US-Bundesstaat Arizona gekauft hatte, dann vor meiner Tür abgeladen wurde, sah er schlimmer aus, als ich befürchtet hatte“, beginnt Spin zu erzählen. „Allein an der Karosserie musste ich nahezu alles erneuern. Und auch sonst brauchte ich für die Bauteile die Hilfe von Experten.“ Chassis, Motor, Elektronik, Sitzpolster – für jegliches Gewerk musste Spin einen Spezialisten ausfindig machen. Vieles davon, etwa eine neue Nase, kam von Porsche Classic. „Ich musste lernen zu warten. Bis ich alle Karosserieteile zusammenhatte, dauerte es fast vier Jahre. Dann begann ich damit, die Puzzleteile zusammenzusetzen.“
Und nach und nach näherte sich der 356 wieder dem Originalzustand, wie er in der Auslieferungsbescheinigung vom Stuttgarter Karosseriewerk Reutter & Co. an Porsche im Januar 1958 beschrieben wird: lackiert in der Sonderfarbe Porzellanweiß; Türtafeln, Armaturenbrett und Lehne in Kunstleder, antik gemasert, Acellarot; Sitzkombination in weißem Nappaleder; Fensterleisten rot lackiert; Knöpfe in Hellbeige; Teppich beige meliert; Blinkschalter und Lenkrad in Beige; elektrische Anlagen und Antennen als Sonderbaukonstruktionen. Die Produktion bei Reutter dauerte rund fünf Wochen länger als bei einem Serienfahrzeug.
Doch der Schmidt-Wagen ist ein besonderes Puzzle, weshalb Spin neben der Beschaffung klassischer Automobilteile vor detektivischen Aufgaben stand. Der Niederländer zeigt auf zwei randvolle Ordner mit historischen Fotos, Artikeln, E-Mail-Verläufen mit Archivmitarbeitern und Kopien von Originaldokumenten. „Durch die Hilfe der Experten und all die Dokumente konnte ich mich über die Jahre dem Original-Schmidt-Zustand annähern“, sagt Spin. Heute sind all die nicht-serienmäßigen Extras und Instrumente wieder zu bestaunen. Die augenscheinlichsten Features sind – neben den Sonderfarben Porzellanweiß und Acellarot – die Lorenz-Telefonanlage samt 50 Zentimeter langer Antenne, das Autoradio Blaupunkt Köln Nr. S 914.551 und das rote Originalkennzeichen als Replika, das den Wagen bereits als Versuchsfahrzeug ausweist. „Man braucht Geduld, um exakt das richtige Telefon oder Radio aufzuspüren“, sagt Spin. „Immerhin ist es fast 70 Jahre her, dass sie produziert wurden.“
Doch Reinhard Schmidts Sonderwünsche gingen noch weiter. Als Extra außerdem mit an Bord: Motor- und Kofferraumbeleuchtung; ein Alarmlicht, das via Kippschalter links vom Tachometer aktiviert wird; ein Tachometer aus dem 356 Carrera; ein Drehzahlmesser aus dem 356 1600 Super; links davon eine Junghans-Uhr, die 1959 auch im Rallyewagen 356 A 1600 GS Carrera GT verbaut wurde; eine Werkzeugbox unter dem klappbaren Beifahrersitz; ausschließlich Kippschalter; ein mobiles Rallyelicht; Blinkschalter rechts vom Lenkrad; Lautsprecher in der Türverkleidung; Rückfahrscheinwerfer und eine elektrische Pumpe für das Scheibenwischwasser statt damals typischem Pedal. Auf einem gelben Schild an Heck und Front prangt zudem der Schriftzug „Versuchswagen 145“. Alles so wie damals vor fast 70 Jahren. Alles wieder aufgebaut von Henk Spin.
„Vieles, was wir in dem Wagen sehen, gab es Jahre später bei Porsche in Serie“, erzählt er. „Gewissermaßen waren die Schmidt-Autos alle Wagen aus der Zukunft.“ Als er das sagt, sieht man ein Lächeln in Henk Spins Gesicht aufblitzen. Zu wissen, dass es dieses Fahrzeug so nur ein einziges Mal auf der Welt gibt – das ist zweifelsohne etwas Besonderes. Vor allem dann, wenn man zehn Jahre in die Restauration gesteckt und mit dem nötigen Können, maximaler Passion und dem gewissen Quäntchen Glück ein Stück Historie wieder zum Leben erweckt hat. „Mag es Leute geben, die das alles als eine ökonomisch nicht mehr vertretbare Spielerei ansehen“, schließt der Christophorus im Jahr 1958 seinen Artikel, „so ist doch das Vergnügen an technischer Perfektion nicht die schlechteste Art, persönliches Glück zu empfinden.“
Info
Text erstmals erschienen im Christophorus Magazin, Ausgabe 415.
Text: Matthias Kriegel
Bilder: Mirko Westerbrink
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