Teresa O’Connor hat Hoffnung geschöpft. Jahrelang haderte die 36-jährige Krankenpflegerin aus dem kanadischen Edmonton mit ihrem Übergewicht. Zu ihrem Schutz hat die Redaktion ihren Namen geändert. Die Person ist real. O’Connor trainierte fast jeden Tag im Fitnessstudio, ging regelmäßig spazieren oder joggen. Doch die überflüssigen Pfunde hielten sich hartnäckig und in ihrem Blut zeigten sich erste Anzeichen von Diabetes. Ihr Arzt verschrieb ihr kurzerhand Ozempic, ein Diabetes-Medikament, das auch als Abnehmspritze genutzt wird. Schon nach den ersten Injektionen zeigte sich: Es funktionierte. Ihr Blutzucker ist wieder im grünen Bereich und sie nimmt endlich ab.
O’Connors Geschichte ist eine von vielen. Hunderttausende Menschen weltweit setzen auf Arzneimittel aus der Gruppe der GLP-1-Analoga, um Gewicht zu verlieren. In den USA, wo die Rate an übergewichtigen oder gar adipösen Menschen besonders hoch ist, soll bereits jeder achte Erwachsene ein solches Mittel verschrieben bekommen haben, obwohl es noch gar nicht so lange verfügbar ist. Die Resultate sind erstaunlich: Erstmals seit Jahrzehnten sinkt die Adipositas-Rate in den USA, anstatt zu steigen.
Verkaufszahlen schießen in die Höhe
Der Wirkstoff ähnelt dem körpereigenen Hormon GLP‑1 und bindet an dessen Rezeptor. Dadurch wird der Körper dazu angeregt, mehr Insulin herzustellen, was den Blutzuckerspiegel stabilisiert. Außerdem verlangsamt sich die Magenentleerung und das Hungergefühl wird schwächer. Weil das künstliche Hormon im Körper sehr langsam abgebaut wird, wirkt es länger und intensiver als natürliches GLP‑1. Schätzungen zufolge leiden schon heute eine Milliarde Menschen an Adipositas. Studien zeigen, dass diejenigen, die Ozempic und vergleichbare GLP-1-Präparate absetzen, ihre verlorenen Pfunde schnell wieder zulegen. Viele Mediziner sehen die GLP-1-Analoga daher als lebenslange Behandlung an.
Die Pharmafirmen mit GLP‑1 im Portfolio steigern ihre Umsätze. Und zugleich ihre Bewertung an der Börse. Novo Nordisk zum Beispiel, ein weltweit führender Pharmahersteller mit Sitz in Dänemark, ist inzwischen das wertvollste Unternehmen Europas. Neben Ozempic, das seit 2017 als Arznei für Diabetiker verfügbar ist, hat Novo Nordisk 2021 unter dem Markennamen Wegovy den gleichen Wirkstoff Semaglutid in höherer Dosierung als Medikament für Übergewichtige auf den Markt gebracht. Die US-amerikanische Firma Eli Lilly bietet unter den Handelsnamen Mounjaro und Zepbound ebenfalls GLP-1-Analoga an. Zahlreiche andere Pharmafirmen sind aufgesprungen. Sie investieren in die Entwicklung weiterer GLP-1-Medikamente, darunter Boehringer Ingelheim und Pfizer.
Pharma als Booster für Lebensmittel
„Dabei ist die Pharmabranche nur eine von vielen, die diesen Boom erleben“, sagt Lochan Kongera, Consultant und Experte für den Handel und die Konsumgüterindustrie bei der Managementberatung Porsche Consulting. Auch die Lebensmittelindustrie wird sich auf eine neue Gruppe von Konsumenten einstellen. Denn wer GLP-1-Medikamente nimmt, kauft meist auch im Supermarkt anders ein als früher. GLP-1-Anwender essen eigenen Angaben zufolge nicht nur 20 bis 35 Prozent weniger Kalorien als früher. Sie wählen auch andere Nahrungsmittel aus. Snacks, Chips, Softdrinks und Süßigkeiten lassen sie häufiger links liegen. Stattdessen greifen sie vermehrt zu Obst, Gemüse und proteinhaltigen Nahrungsmitteln. Die US-amerikanische Supermarktkette Walmart, die über ihre hauseigenen Apotheken auch Ozempic und ähnliche Präparate verkauft, kann das anhand von Kundendaten gut nachvollziehen. Als der CEO von Walmart diesen Umstand in einem Interview ansprach, hatte das Folgen bis an die Börse: Die Aktienkurse der Getränkegiganten Coca-Cola und PepsiCo sackten ab. Die Börsianer befürchteten, dass der Umsatz der zuckerhaltigen Getränke aufgrund des Ozempic-Booms abflauen könnte.
Konzerne kaufen ein
„Die Hersteller müssen umdenken, wenn sie von dieser neuen Zielgruppe profitieren wollen“, so Kongera. Sei es durch die Entwicklung eigener neuer Produkte oder die Erweiterung des Portfolios durch strategische Übernahmen. Einige große Konzerne waren bereits auf Einkaufstour und haben sich kleinere Unternehmen einverleibt, um zukünftig noch besser an gewichts- und gesundheitsbewusste Kundschaft heranzukommen. Mars kaufte Kevin’s Natural Foods, einen Hersteller von Fertiggerichten und Saucen. Nestlé holte sich den Löwenanteil an Yfood, einem Start-up aus dem süddeutschen München, das äußerst erfolgreich protein- und ballaststoffreiche Ersatznahrung in Form von Riegeln, Pulvern oder Shakes verkauft. Eine Nebenerscheinung der Abnehmspritze ist der Verlust von Muskelmasse. Eine erhöhte Proteinzufuhr soll diesen unerwünschten Effekt abmildern. „Daher haben Firmen einen Startvorteil, die bereits lange vor dem Ozempic-Hype spezielle Nahrungsergänzungsmittel und proteinreiche Produkte in ihr Portfolio aufgenommen haben“, erklärt Joey Wilson, Experte für den Bereich Life Sciences bei Porsche Consulting.
So vertreiben beispielsweise europäische Lebensmittelhersteller wie Danone und Dr. Oetker schon lange erfolgreich Joghurt, Pudding oder gekühlte Kaffeespezialitäten mit erhöhtem Proteingehalt. In der Werbung für diese Produkte wird die Abnehmspritze bisher nicht direkt angesprochen. Aber das könnte sich ändern. „Ein neu ausgerichtetes Marketing könnte dabei helfen, gezielt diese neue Interessengruppe anzusprechen“, sagt Wilson. Der Schweizer Weltkonzern Nestlé hat im Mai 2024 sogar eine neue Marke ins Leben gerufen, die sich direkt an Kundschaft richtet, die GLP‑1 zur Gewichtsreduzierung nutzt. Unter dem Namen Vital Pursuit werden tiefgefrorene, einzeln portionierte Mahlzeiten angeboten, die sich durch einen erhöhten Gehalt an Proteinen, Ballaststoffen und essenziellen Nährstoffen auszeichnen.
Kein Hunger – ein Gesundheitsrisiko?
Weil GLP-1-Analoga das Hungergefühl drastisch senken, laufen Menschen Gefahr, nicht mehr alle nötigen Nährstoffe zu sich zu nehmen. „Die Leute essen weniger, aber sie essen nicht automatisch das, was ihr Körper braucht“, so Wilson. Seine Prognose: „Das eröffnet den Markt für neue Produkte, die dem potenziellen Vitamin- und Nährstoffmangel etwas entgegensetzen sollen, wie Nahrungsergänzungsmittel oder Nutraceuticals.“ Hersteller Nestlé formuliert die Interessen seiner Kundschaft in einer Presseinformation so: „Menschen, die aktiv ihr Gewicht verändern wollen, legen möglicherweise einen größeren Fokus auf Portionskontrolle und Nährstoffbalance ihrer Nahrungsmittel, während sie gleichzeitig großartigen Geschmack und leichte Verfügbarkeit erwarten.“ Zunächst ist das Produkt Vital Pursuit ausschließlich in den USA erhältlich. Das könnte sich jedoch schnell ändern.
Die Abnehm-Vormacher von WeightWatchers haben ein neues Programm für die GLP-1-Nutzerschaft entwickelt. Und die Kochbox Daily Harvest liefert neuerdings Zutaten für Gerichte, die speziell auf die Nährstoffbedürfnisse dieser Menschen zugeschnitten sein sollen. Die US-amerikanische Handelskette GNC, die auf Vitamine und Nahrungsergänzungsmittel spezialisiert ist, bewirbt auf ihrer Webseite daher Produkte speziell für Menschen, die auf die Abnehmspritze setzen. Und Nestlé hat einen eigenen Online-Shop namens GLP-1Nutrition ins Leben gerufen, der ebenfalls diesen Konsumentenkreis direkt anspricht.
Die Industrie erkennt, dass es eine neue Zielgruppe gibt, die mit der Zeit wohl eher wachsen als schrumpfen wird. Der Wettlauf um diese neue Kundschaft hat eigentlich erst angefangen. „Zurzeit ist der Markt weit offen für neue Produkte, bei denen Gesundheit im Mittelpunkt steht“, sagt Lochan Kongera. „Wer am Ende das Rennen macht, bleibt abzuwarten.“
Info
Text erstmalig erschienen im Porsche Consulting Magazin.