Bei der Applikation neuer Fahrzeugfunktionen müssen die Ingenieure einen immer größeren Aufwand betreiben, denn mit dem zunehmenden Funktionsumfang und der wachsenden Systemvernetzung moderner Fahrzeuge steigt auch die Anzahl der für die Applikation notwendigen Tests und der relevanten Parameter signifikant an. Um die höhere Komplexität auch künftig noch beherrschen zu können und zudem die Entwicklungseffizienz zu erhöhen, setzt Porsche Engineering Künstliche Intelligenz (KI) zur Kalibrierung und Bedatung der Steuergeräte ein. „Mit dem Porsche Engineering Reinforcement Learning, kurz PERL, machen wir die Applikation von Fahrfunktionen zu einem smarten Entscheidungsprozess“, so Matteo Skull, Fachprojektleiter bei Porsche Engineering.
PERL basiert auf dem sogenannten Deep Reinforcement Learning, einem selbstlernenden KI-Verfahren. Die Grundidee: Statt einzelne Parameter zu optimieren, erarbeitet sich die KI eine Strategie, die zu einem bestmöglichen Applikationsergebnis für eine ganze Funktion führt. Vorteile sind die hohe Prozesseffizienz der Methodik, da sie selbstlernend ist, und die universelle Anwendbarkeit auf viele Entwicklungsbereiche des Fahrzeugs. „Porsche Engineering hat schon früh das Potenzial von Deep Reinforcement Learning für die automatisierte Applikation von Steuergeräten erkannt. Seit 2017 arbeiten wir zusammen mit KI-Experten der Porsche-Engineering-Standorte im rumänischen Cluj und in Timisoara an PERL und haben die Methodik seither ständig weiterentwickelt“, so Dr. Matthias Bach, Leiter HV-Batterie Applikation und Diagnose bei Porsche Engineering.
Mehr als 50 Patente hat Porsche Engineering inzwischen für PERL angemeldet.
Inzwischen wurden mehr als 50 Patente für PERL angemeldet. Dank dieser Kompetenz ist Porsche Engineering eines der ersten Unternehmen weltweit, das eine Methodik für die KI-gestützte Applikation validiert und in den Entwicklungsprozess für neue Fahrzeugsysteme integriert hat. Zwischenzeitlich wurde PERL schon in zwei Kundenprojekten für die Applikation eingesetzt. Einerseits betreibt Porsche Engineering seit rund drei Jahren in Zusammenarbeit mit dem FZI Forschungszentrum Informatik in Karlsruhe und mit Porsche eine Forschungskooperation, in deren Rahmen PERL für die Abstimmung der Gemischaufbereitung eines neuen Ottomotors für Hybridfahrzeuge genutzt wird. Andererseits kommt PERL bei der Applikation der Schwingungsdämpfung im Antriebsstrang eines E-Fahrzeugs von Porsche zum Einsatz.
Applikation von Reglern
In beiden Fällen wird die KI für die Applikation von Reglern genutzt, was eine besondere Herausforderung darstellt. Thomas Rudolf, Doktorand bei Porsche Engineering und am FZI, erklärt: „Die Applikation von Regelungsfunktionen ist sehr anspruchsvoll, da wir hochdynamische Vorgänge präzise kontrollieren müssen. Bei der Gemischaufbereitung eines Motors beispielsweise muss für jede Drehzahl und Drehmomentkombination mittels Parameterkennfeldern die Einspritzmenge richtig abgestimmt werden, damit der Lambda-Wert als Regelungsgröße für den optimalen Betrieb der Abgasnachbehandlung dem Soll entspricht.“
Die Herausforderung resultiert dabei vor allem aus der Totzeit, die sich aus der räumlichen Entfernung zwischen Motor und Sensorik am Ende des Abgasstrangs ergibt, gepaart mit der hohen Schnelligkeit, mit der das Regelungssystem etwa bei einem Lastwechsel arbeiten muss. Wenn die Regelung zu langsam reagiert, schränkt das die Funktion der Abgasreinigung ein, und die Emissionen steigen. Wenn zu aggressiv geregelt wird, kann sich das System unter Umständen aufschaukeln. Entscheidend ist darum, einen Mittelweg zwischen beiden Extremen zu finden. „Die maßgeschneiderte Parametrierung von komplexen und variantenreichen regelungstechnischen Systemen im Automobil stellt nach wie vor eine große Herausforderung dar. Moderne Lernverfahren können die umfangreiche, kostenintensive und teilweise händische Applikation signifikant beschleunigen und effizienter machen“, fasst Prof. Dr.-Ing. Sören Hohmann, Leiter am Institut für Regelungs- und Steuerungssysteme am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und Direktor am FZI, die Vorteile der KI-Nutzung zusammen.
„Moderne Lernverfahren können die umfangreiche, kostenintensive und teilweise händische Applikation signifikant beschleunigen und effizienter machen.“ Prof. Dr.-Ing. Sören Hohmann Leiter am Institut für Regelungs- und Steuerungssysteme am KIT und Direktor am FZI
PERL ist in der Lage, die Vielzahl der Regelungsparameter auch für einen hochdynamischen Motorbetrieb so abzustimmen, dass das optimale Gemisch eingestellt wird. „Insbesondere für künftige, strengere Emissionsnormen, die eine noch genauere Lambda-Regelung in allen Betriebsbereichen erforderlich machen, ist PERL damit ein unverzichtbares Entwicklungswerkzeug“, so Bach. Seine Einschätzung teilt auch Dr. Galabina Aleksieva-Rausch, die bei Porsche für die Prozesse, Qualität und Methodenentwicklung verantwortlich ist: „Wir haben PERL im Rahmen einer Potenzialstudie parallel zur konventionellen Applikation eingesetzt, um eine Vergleichbarkeit der Ergebnisse zu gewährleisten. Das Resultat war viel besser als erwartet: Die Kalibrierung mit dem KI-Ansatz war ohne Feinanpassung bereits beinahe so gut wie die der Serienapplikation.“
Die Reife der im Rechner mittels KI generierten Applikationsdaten ist stark von der jeweiligen Aufgabenstellung abhängig, liegt in der Regel jedoch bei 80 bis 90 Prozent. Der Feinschliff und die Validierung der Rohkalibrierung erfolgen dann durch Prüfstandsversuche und Testfahrten, die aufgrund der Anforderungen an die Qualitätskontrolle und Absicherung auch künftig fester Bestandteil der Applikation bleiben müssen. Auch hierbei unterstützt PERL die Applikateurin bzw. den Applikateur, denn das Programm kann bei Tests im Hintergrund mitlaufen und nutzt die dabei gewonnenen Daten, um Vorschläge für die weitere Optimierung der Applikation zu machen.
Derzeit lässt sich der Effizienzgewinn von PERL bei einer Nutzung für die Serienentwicklung noch nicht beziffern. Fest steht allerdings schon jetzt, dass KI-gestützte Applikationsmethoden wie PERL den Gesamtentwicklungsprozess signifikant beschleunigen können: „Dank PERL können wir die Applikation erheblich früher durchführen und erhalten schneller valide Ergebnisse, mit denen wir die folgenden Entwicklungsschritte sehr viel zielgerichteter und damit effizienter angehen können“, so Stefano Chini aus dem Team von Aleksieva-Rausch.
Der zweite Anwendungsfall von PERL ist die Schwingungsdämpfung im Antriebsstrang eines E-Fahrzeugs. Hier versuchen die Ingenieurinnen und Ingenieure, eine störende Schwingung im Antriebsstrang durch eine gezielt eingekoppelte Gegenmaßnahme abzuschwächen – das gleiche Prinzip ist beispielsweise bei Kopfhörern als „Noise-Cancelling“ bekannt. Dabei geht es vor allem um Anregungen im Bereich von 1 bis 15 Hertz, die von den Insassen im Fahrzeug oft als Vibrationen wahrgenommen werden und schlimmstenfalls sogar Schäden am Antriebsstrang verursachen können. Wie bei der Gemischbildung im Motor ist auch hier eine optimale Regelung entscheidend für die Systemfunktion, denn für eine wirksame Dämpfung muss der Elektromotor des Fahrzeugs zum richtigen Zeitpunkt und in der passenden Taktung angesteuert werden. Zudem darf die Gegenschwingung nicht zu stark ausgelegt sein, denn das zur Erzeugung der Gegenimpulse erforderliche Motormoment fehlt für den Vortrieb. Dadurch sind bei diesem Konzept Komfort und Fahrdynamik in direkter Wechselwirkung.
Optimale Balance finden
Die Applikateure müssen bei der Auslegung der Schwingungsdämpfung daher eine optimale Balance zwischen Komfort und Sportlichkeit finden. Um das bestmögliche und Porsche-typische Ergebnis zu erzielen, werden für die Schwingungsdämpfung drei Kennfelder pro elektrisch angetriebener Achse gleichzeitig bedatet. Wegen der hohen Komplexität ist eine robuste Erstbedatung der Steuergeräte bei der manuellen Applikation mit hohem Aufwand verbunden. Erst danach können die Applikateure mit der Kalibrierungsfeinarbeit starten. „Ein Hauptziel von PERL war die Verkürzung dieses Zeitraums. Auch stand von Anfang an eine universelle Anwendungsmöglichkeit der KI für ganz unterschiedliche Fahrzeugplattformen und Derivate im Fokus“, sagt Maurice Hauß, Software-Ingenieur bei Porsche.
Um PERL einsetzen zu können, hat das Entwicklerteam von Porsche Engineering und Porsche zunächst aus einzelnen Prüfstandsdaten ein Modell der Fahrwerkphysik real auftretender Schwingungsprofile erstellt, das mittels neuronaler Netze erweitert wurde. „Das Hardwaremodell simuliert die Physik, und das künstliche neuronale Netz überbrückt die Genauigkeitslücke zwischen der realen Welt und der Simulation“, erklärt Skull. Im Anschluss kam die PERL-Kernmethodik zum Einsatz. Der KI-Agent wurde anhand eines großen Datensatzes und zufällig initialisierter Kennfelder am hybriden Modell trainiert, sodass eine gute Generalisierung der Strategie gewährleistet ist.
Nach Ende des aufwendigen Trainings dauerte es im Zieleinsatz nur wenige Sekunden, bis die fahrzeugspezifische Applikationsanpassung beendet war. Zudem ließ sich die Strategie der KI vom ursprünglichen Fahrzeug ohne Änderungen und teilweise ohne fahrzeugspezifische Messungen auf weitere Derivate, auch mit anderen Antriebssträngen, übertragen. Die mit dem Einsatz von PERL verknüpften Erwartungen wurden damit weit übertroffen. „Bei neuen Varianten können wir dank PERL mit vorberechneten Daten in die Applikation starten, andere Nutzer von Testfahrzeugen können in dieser Zeit parallel an der Fahrzeugapplikation arbeiten und müssten nicht auf uns warten“, erklärt Tobias Roulet, Leiter Applikation E-Fahrzeuge bei Porsche. „In Summe können wir so ein bis zwei Wochen Applikationszeit einsparen. Zudem liefert PERL eine valide Vorbedatung, bei der ersten Inbetriebnahme des Antriebsstrangs besteht somit keine Gefahr von Schäden durch fehlerhafte Applikationsdaten.“
„PERL hat bewiesen, dass der Ansatz universell für alle Bedatungen anwendbar ist und dass KI den Aufwand und den Zeitbedarf in der Applikation deutlich reduzieren kann.“ Dr. Matthias Bach, Leiter HV-Batterie Applikation und Diagnose bei Porsche Engineering
Das Kundenfazit fällt nach dem erfolgreichen Abschluss beider Kundenprojekte durchweg positiv aus. „PERL hat bewiesen, dass der Ansatz universell für alle Bedatungen anwendbar ist und dass KI den Aufwand und den Zeitbedarf in der Applikation deutlich reduzieren kann. Damit zahlt die neu entwickelte PERL-Methodik auf ein strategisches Ziel von Porsche Engineering ein: die Sicherstellung einer kurzen Lieferzeit von qualitativ hochwertigen Lösungen bei komplexen Aufgabenstellungen – zum Nutzen unserer Kunden“, so Bach. Eine Erweiterung der PERL-Nutzung bei Porsche ist schon in Planung. So soll das Programm beispielsweise für die Optimierung der Applikation der Nockenwellenlagerregelung eingesetzt werden.
Applikation der Schwingungsdämpfung
Neuronales Netz verbessert Simulations-Genauigkeit
Für eine wirksame Schwingungsdämpfung muss der Elektromotor des E-Fahrzeugs zum richtigen Zeitpunkt und in der passenden Taktung angesteuert werden. Zudem darf die Gegenschwingung nicht zu stark ausgelegt sein, denn das zur Erzeugung der Gegenimpulse erforderliche Motormoment fehlt für den Vortrieb. Um PERL einsetzen zu können, haben die Entwickler zunächst aus Prüfstandsdaten ein Modell der Fahrwerkphysik real auftretender Schwingungsprofile erstellt. Es wurde dann mithilfe neuronaler Netze erweitert. Das Hardwaremodell simuliert die Physik, und das künstliche neuronale Netz überbrückt die Genauigkeitslücke zwischen der realen Welt und der Simulation.
PERL Policy Training
Cloud Computing beschleunigt die Berechnungen
Der Agent wurde anhand eines großen Datensatzes und zufällig initialisierter Kennfelder trainiert, um eine gute Generalisierung der Strategie zu gewährleisten. 64 CPU-Kerne in der Cloud haben die Simulationen parallel verarbeitet, was im Vergleich zu einer lokalen Maschine zu einer deutlichen Beschleunigung der Berechnungen geführt hat. Die Strategie wurde mit einem Grafikprozessor in der Cloud optimiert.
Zusammengefasst
Porsche Engineering nutzt Reinforcement Learning (RL) für die Applikation von Fahrfunktionen. Der neue Ansatz führt dazu, dass ein Großteil der Bedatung von der KI übernommen wird, erst am Ende gibt es den manuellen Feinschliff auf der Teststrecke. Zudem kann ein trainierter RL-Agent die Applikation mehrerer Fahrzeugderivate übernehmen. So verkürzt RL als Methode den Zeit- und Kostenaufwand in der Applikation erheblich.
Info
Text erstmals erschienen im Porsche Engineering Magazin, Ausgabe 1/2024.
Text: Richard Backhaus
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