Als derjenige, der den Begriff „Metaverse“ geprägt hat, gilt der Science-Fiction-Autor Neal Stephenson. In seinem 1992 erschienenen Roman „Snow Crash“ lässt er seine Protagonisten nicht nur Abenteuer in der analogen Welt, sondern als Avatare auch in der digitalen Sphäre des Metaverse erleben. Dass sich Denker und Lenker von Science-Fiction-Autoren beeinflussen lassen, ist keinesfalls ungewöhnlich. Und warum auch nicht? „Alles, was in diesem Moment noch Fiktion ist, ist im nächsten bereits Realität“, sagt Dr. Martha Böckenfeld, Dekanin und Partnerin der Zürcher Metaverse Academy, im Interview mit dem Porsche Consulting Magazin.
Doch welche Form wird das Healthcare Metaverse der Zukunft annehmen? Organisiert es sich als „digitales Dorf“, wie es Adam Gründer, Advisor bei der BPV Group, formuliert? Wird es also lediglich eine Plattform geben, auf der alle medizinischen Anbieter vertreten sein werden? Und auf der Patientinnen und Patienten für alle ihre gesundheitlichen Anliegen Lösungen und Ansprechpartner finden werden?
Mindestens zehn Jahre wird es aus Gründers Sicht dauern, bis ein solches Szenario Realität werden könnte – und das dürfte eher die optimistische Schätzung sein. Bleibt die Frage, wer diese Plattform später kontrolliert. „Aus Sicht deutscher Verbraucher sind sensible Gesundheitsdaten sicherlich auf Servern in ihrem eigenen Land besser aufgehoben als bei einem internationalen Technologie-Unternehmen“, gibt Gründer zu bedenken. Ähnlich könnten auch die Bürgerinnen und Bürger anderer Länder argumentieren, die über einen sichereren und dabei vielleicht sogar technologiefreundlicheren Datenschutz als Deutschland verfügen. Also doch keine internationale Lösung für die umfassende Plattform? Aus Böckenfelds Perspektive spricht nach wie vor nichts dagegen, es sollte nur statt eines Unternehmens eine neutrale, internationale Organisation mit der Kontrolle der Datenplattform beauftragt werden.
Für Josef Bartl ist Datenschutz von zentraler Bedeutung, die Diskussion über die Kontrollinstanz einer solchen Plattform hingegen verfrüht: Der Vice President Corporate Strategy und M&A bei Brainlab ist der Meinung, dass „eine umfassende virtuelle Parallelwelt im Gesundheitsbereich“ in absehbarer Zukunft schlichtweg keinen Sinn macht. Seiner Meinung nach definiert sich das Healthcare Metaverse eben nicht über den großen, gemeinsamen Rahmen, sondern als Unterstützung bei konkreten Problemstellungen durch die Verschmelzung der analogen Welt mit Daten. „Aus diesem Prozess resultieren dann neue Möglichkeiten“, sagt Bartl, „neue Möglichkeiten, Informationen zu konsumieren, mit Datenmodellen zu interagieren und mit anderen Personen datengestützt zu kollaborieren.“
Die Kompetenz kommt zum Patienten – weltweit
Es sind solche Möglichkeiten, so Alexander Nathaus, Partner Life Science bei der Managementberatung Porsche Consulting, die deutlicher herausgearbeitet werden müssen, um dem Healthcare Metaverse zum finalen Durchbruch zu verhelfen. „Nur wenn Patientinnen und Patienten die konkreten Vorteile verstehen, die ihnen die neue, digitale Healthcare-Welt bietet, wird das Metaverse sein volles Potenzial entfalten können.“
Dass reichlich Potenzial vorhanden ist – daran lässt der Managementberater keinen Zweifel. „Nicht zuletzt die sprunghafte Zunahme der Telemedizin seit der Corona-Krise hat gezeigt, dass Arztbesuche nicht ausschließlich in der analogen Welt stattfinden müssen“, sagt Nathaus. Oft ist es zudem nicht nur bequemer, sich medizinischen Rat in virtuellen Räumen einzuholen. „Es kann auch sinnvoller sein, etwa wenn Expertinnen und Experten mit relevanter Kompetenz für ein spezifisches Gesundheitsthema nicht vor Ort verfügbar sind.“ So können Therapien von internationalen Medizinern gesteuert und dann von lokalen Partnerkliniken umgesetzt werden.
Nathaus zeigt eine ganze Bandbreite von Anwendungen auf, die bereits heute den medizinischen Alltag im Metaverse strukturieren. Dazu gehören unter anderem internationale Kooperationen von Medizinerinnen und Medizinern, optimierte OP-Vorbereitungen sowie Schulungen und Patientengespräche anhand digitaler Zwillinge. „Da vor allem die jüngeren Generationen im Umgang mit dem Metaverse vertraut sind, wird der virtuelle Raum auch bei medizinischen Themen zunehmend an Bedeutung gewinnen.“
Investments ins Healthcare Metaverse sollten gleichwohl sorgfältig abgewogen werden. „Unternehmen, die hier erfolgreich sein wollen, evaluieren zuallererst systematisch ihre Chancen, schätzen ihre spezifischen Risiken ab und planen anschließend strategisch Schritt für Schritt“, sagt Nathaus. Bei der anfänglichen Analyse gelte es insbesondere zwei Fragen zu klären: Können die eigenen Produkte und Dienstleistungen einen Zusatznutzen in der digitalen Gesundheitssphäre bringen? Und: Welche Voraussetzungen müssen – alleine oder mit Partnern – geschaffen werden, um das eigene Geschäftsmodell in diesen neuen Kanal hineinzuentwickeln?
Gelingt es den Unternehmen, sinnvolle Lösungen im Healthcare Metaverse zu installieren, profitieren am Ende nicht nur sie selbst, sondern – wie so oft im Gesundheitswesen – auch die Patientinnen und Patienten.
Adam Gründer: „Bis zu einer gemeinsamen Plattform wird es noch zehn Jahre dauern“
Adam Gründer ist seit November 2022 Advisor der BPV Group und verantwortet dort das internationale Geschäft. Das Unternehmen mit Hauptsitz in der westdeutschen Kreisstadt Unna hat sich auf die Ausrüstung mobiler Arbeitsplätze spezialisiert und bietet unter anderem Lösungen im Bereich Virtual und Augmented Reality an. Gleichzeitig ist Adam Gründer CEO der Agentur 10xD, die Veranstaltungen und andere Formate im Healthcare-Sektor entwickelt. Vor seiner Tätigkeit bei BPV war Gründer Lead Innovation Manager bei T‑Systems mit den Schwerpunkten Metaverse, Cloud und IT-Lösungen im Gesundheitswesen. Das Interview für diesen Beitrag führte Gründer noch in seiner Funktion bei T‑Systems.
Mit seinem Avatar – seiner künstlichen digitalen Person – ist Adam Gründer bereits regelmäßig im Healthcare Metaverse unterwegs. Und doch wird dieser neue, digitale Raum aus seiner Sicht erst in der Langfristperspektive an Kontur gewinnen. „Mit Blick in die Zukunft können wir uns das Healthcare Metaverse am besten als eine Art Dorf vorstellen“, sagt Gründer. Betreten die Bewohnerinnen und Bewohner – natürlich allesamt als Avatare – dieses digitale Dorf, stehen ihnen zahlreiche Optionen zur Verfügung. „Auch wenn es nur eine Plattform ist, können sie doch ganz unterschiedliche Orte aufsuchen, um dort medizinische Anwendungen durchführen zu lassen oder sich zu informieren.“ Voraussetzung für diese neue digitale Welt: „Das virtuelle Forum muss allen Marktteilnehmern im Gesundheitswesen offenstehen.“
Martha Böckenfeld: „Internationale Organisation sollte Plattform für alle schaffen“
Dr. Martha Böckenfeld ist Metaverse Evangelista, Dekanin und Partnerin der Metaverse Academy in Zürich (Schweiz) und lehrt zudem in den Bereichen Innovationsmanagement, digitale Transformation, Web3 sowie Blockchain-Technologie. Parallel dazu engagiert sie sich in verschiedenen Netzwerken für die Karrierechancen von Frauen und gehört zu den Top 100 Women of the Future und World’s Top 200 Business & Technology Innovators. Böckenfeld blickt auf eine 20-jährige Karriere in der internationalen Finanzindustrie zurück und war unter anderem Vorstandsmitglied der Winterthur Gruppe, CEO bei Kleinwort Benson, Aufsichtsratsmitglied bei Unicredit und Vorstandsmitglied der UBS Schweiz für digitale Plattformen und Marktplätze.
Spätestens als Dr. Martha Böckenfeld 2015 in London ihre erste Virtual-Reality-Brille aufsetzte, begann ihr Interesse für das, was erst später „Metaverse“ genannt wurde. Der Grund, warum sie diese erste virtuelle Erfahrung so sehr prägte, war ihr damaliges berufliches Steckenpferd: das Thema Kundenerwartung. „Mir war im Grunde sofort klar, dass diese neue Technik die Kundenerwartungen einmal ebenso stark verändern würde, wie es zuvor Netflix und Amazon getan hatten.“ Böckenfeld wollte deshalb unbedingt mehr über dieses Thema wissen.
Josef Bartl: „Das Metaverse ist bereits in der klinischen Praxis angekommen“
Josef Bartl leitet den Bereich Corporate Strategy und M&A bei Brainlab, einem führenden Anbieter von digitaler Medizintechnologie mit Sitz in der süddeutschen Metropole München. Bartl verantwortet in seiner Position strategische Projekte und Transaktionen, die die führende Rolle von Brainlab im Bereich der datengetriebenen Medizin weiter ausbauen. So übernahm Brainlab im Jahr 2020 unter seiner Federführung den Videospielspezialisten Level Ex mit Sitz in Chicago und konnte sein Portfolio im Bereich der medizinischen Fortbildung damit deutlich stärken. Vor seiner Zeit bei Brainlab war Josef Bartl im Bereich M&A Advisory tätig. Er hat VWL an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) studiert.
Brainlab dürfte einer der deutschen Technologiekonzerne sein, die das Healthcare Metaverse seit seinen ersten Ideen praktisch mitgestalten. „Wenn wir uns heute anschauen, was die tatsächlichen Metaverse-Applikationen ausmacht, kann man im Grunde sagen, dass wir hier schon länger aktiv sind, als der Begriff in der Branche kursiert“, sagt Josef Bartl, Vice President Corporate Strategy und M&A bei Brainlab.
So verbessert das Metaverse die Behandlung
- Kompetenzen bündeln: Medizinisches Personal auf der ganzen Welt kann sich in digitalen Räumen austauschen und sich virtuell bei Operationen gegenseitig unterstützen.
- Operationsvorbereitung: Durch Hologramme der Patientenanatomie hat das Klinikpersonal die Möglichkeit, sich gezielt und am konkreten Fall auf einen Eingriff vorzubereiten.
- Operationsbegleitung: Mit Augmented-Reality-Brillen erhalten Chirurgen wichtige Zusatzinformationen und auf Wunsch Schritt-für-Schritt-Hinweise zum anstehenden Eingriff.
- Fortbildung: Durch den Einsatz digitaler Zwillinge etwa von CT- oder MRT-Geräten kann praxisnah geschult werden, ohne die teuren und oft ausgebuchten radiologischen Anlagen dabei zu blockieren. Auch über Metaverse-Apps finden bereits virtuelle Schulungen statt.
- Patientengespräch: Mit Virtual-Reality-Brillen und 3D-Modellen kann medizinisches Personal den Patientinnen und Patienten Krankheitsbilder und einzuleitende Maßnahmen besser veranschaulichen.
- Neue Therapien: Durch das Sammeln von Daten etwa von Smartwatches oder Wearables können ganz neue Therapien entwickelt werden. Ob und wo das gelingt, hängt nicht zuletzt von Restriktionen durch die Datenschutzgesetze des jeweiligen Landes ab.
- Ansprache verbessern: Mit einer Metaverse-Präsenz und Avataren lassen sich vor allem jüngere Zielgruppen besser ansprechen und für eine fortschrittliche Behandlung gewinnen, weil digitale Lösungen ihrer Lebenswirklichkeit mehr entsprechen.
- Fernüberwachung: Medizinisches Personal kann den Gesundheitszustand von Patientinnen und Patienten durch Metaverse-Apps kontinuierlich überwachen – auch, wenn diese in abgelegenen oder unterversorgten Gebieten leben.
- Virtual-Reality-Therapie: Individuelle Therapiesitzungen im virtuellen Raum kommen bereits bei psychischen Erkrankungen, etwa bei Angstzuständen und posttraumatischen Belastungsstörungen, zum Einsatz.
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Text erstmalig erschienen im Porsche Consulting Magazin.