Es ist eine Situation, wie sie jeder Autofahrer wohl schon Dutzende Male erlebt hat. Man ist auf der linken Spur der Autobahn unterwegs und sieht instinktiv voraus, dass gleich ein vorausfahrendes Auto von rechts zum Überholen ansetzen und sich vor das eigene Fahrzeug setzen wird. Menschen haben für solche Situationen eine Art siebten Sinn: Aus dem Kontext und ihrer langjährigen Erfahrung im Straßenverkehr schließen sie, dass der andere Fahrer in Kürze einscheren könnte.
Maschinen tun sich mit solchen Schlüssen noch deutlich schwerer. Darum reagiert das Adaptive Cruise Control (ACC) aktuell erst, wenn sich ein Auto von rechts oder von links vor das eigene Fahrzeug setzt. „Basierend auf den Erfahrungen aus der Serienentwicklung haben wir eine innovative Idee entwickelt: Es wäre viel komfortabler, wenn die Technik das bevorstehende Einscheren voraussehen und frühzeitig auf Abstand gehen könnte – so wie jeder erfahrene Mensch es tut. Genau das steckt hinter der Idee der ,Cut in-Detection‘ (Einscherer-Erkennung), die das Autofahren in Zukunft noch komfortabler machen soll“, erklärt Philipp Wustmann, Projektleiter Fahrerassistenzsysteme.
Ohne Künstliche Intelligenz ist diese Idee schwierig umzusetzen, weil man die Hinweise auf ein Einscheren nur eingeschränkt durch Regeln und klassische Programmierung beschreiben kann.
„Das innovative Umfeld und die Data-Science-Expertise am Standort Cluj werden uns in die Lage versetzen, neue Wege bei der Fahrzeugentwicklung zu gehen.“ Dirk Lappe, Technischer Geschäftsführer Porsche Engineering
Darum kommt beim Thema Cut in-Detection der Standort von Porsche Engineering im rumänischen Cluj-Napoca ins Spiel: Dort arbeiten Software- und Funktionsentwickler, die sich mit neuen Fahrzeugfunktionen, aber auch mit innovativen Entwicklungstools beschäftigen.
„Ein wichtiger Erfolgsfaktor für uns wird in Zukunft die Entwicklung und der Einsatz von KI-Methoden und entsprechender Werkzeuge sein“, sagt Dirk Lappe, Geschäftsführer von Porsche Engineering. „Das innovative Umfeld und die Data-Science-Expertise am Standort Cluj werden uns in die Lage versetzen, hier neue Wege bei der Fahrzeugentwicklung zu gehen.“ Rund 180 Mitarbeiter verteilen sich auf vier Stockwerke in einem neuen, lichtdurchfluteten Gebäude – darunter viele KI-Experten. Jeden Monat kommen neue Kollegen hinzu, sodass der Standort bis Mitte 2020 auf 210 Mitarbeiter anwachsen wird.
Neue Lösungen bald in Serie
In Cluj-Napoca nutzen die Experten aktuelle KI-Methoden wie Neuronale Netze oder Reinforcement Learning für neue Fahrerassistenzsysteme, die autonomen Fahrzeuge der Zukunft oder virtuelle Tests neuer Fahrzeugfunktionen. „Wir entwickeln hier neue Lösungen und Features, die in naher Zukunft in Serie gehen können“, sagt Marius Mihailovici, Managing Director von Porsche Engineering in Rumänien. „Durch die Bearbeitung von spannenden Entwicklungsaufträgen und die enge Kooperation mit Universitäten erweitern wir ständig unser Portfolio und unsere Kompetenzen.“
Bei der Cut in-Detection kommt ein Neuronales Netz zum Einsatz: Menschen betrachten Bilder von Autobahnfahrten und drücken einen Knopf, sobald sie mit dem baldigen Einscheren eines vorausfahrenden Autos rechnen. „In der Trainingsphase verknüpft das Neuronale Netz diesen menschlichen Input mit den Signalen, die die Fahrzeugsensoren liefern“, erklärt Rares Barbantan, Software-Architekt bei Porsche Engineering in Cluj-Napoca. „So lernt es, aus den Sensordaten das Einscheren vorherzusehen.“ Mit diesem Wissen kann das ACC frühzeitig reagieren, um den nötigen Abstand für das einscherende Fahrzeug einzuregeln. Seit Ende 2018 arbeiten die Entwickler in Cluj-Napoca an dem neuen System. Die Cut in-Detection kommt in vielen Fällen ohne zusätzliche Sensoren aus – als Hauptinformation dient die für andere Assistenzsysteme bereits vorhandene Liste der Objekte auf den zwei nächstliegenden Fahrspuren.
Aber auch die Abstandsregelung selbst wollen die KI-Experten in Rumänien weiter verbessern. Genauer: Sie soll komfortabler werden und sich in der Zukunft an den Stil des Fahrzeugbesitzers anpassen. „Im ersten Schritt haben die Entwicklerkollegen in Prag die Kernfunktion des adaptiven Abstandstempomaten mit klassischen Methoden realisiert. Im nächsten Schritt lernt es jetzt, das Verhalten mit KI zu optimieren, um es in Zukunft an die Präferenzen des Fahrers anzupassen“, erklärt Tudor Ziman, der in Cluj-Napoca die Softwareentwicklung für neue Funktionen leitet. Dafür kommt verstärkendes Lernen (Reinforcement Learning) zum Einsatz: Im Simulator und auf der Straße bewerten Menschen, wie komfortabel sie die Abstandsregelung finden. Aus diesem Feedback lernt das System, mehr „menschlich“ zu reagieren.
Dass Porsche Engineering solche KI-Aktivitäten in Cluj-Napoca bündelt, hat einen guten Grund: In der Stadt mit 400.000 Einwohnern gibt es rund 100.000 Studenten an sechs Hochschulen. Mehr als 20.000 studieren allein an der Technischen Universität, die jedes Jahr rund 800 Absolventen in den Fächern Computer Science und Automatisierung hervorbringt. Hinzu kommt: Das Thema KI hat hier eine lange Tradition. „Wir beschäftigen uns schon seit 1978 damit“, berichtet Professor Sergiu Nedevschi, Vizerektor für Forschung an der TU Cluj-Napoca und Experte für computergestützte Bilderkennung. „Und bereits seit 2001 kooperieren wir auf diesem Gebiet mit Volkswagen, wobei es derzeit vor allem um autonomes Fahren und Umfelderkennung geht.“ Mit Porsche Engineering spricht er ebenfalls über eine Zusammenarbeit, zu der neben der Entwicklung neuer Lösungen auch die Ausbildung von Studenten gehören soll. Nedevschi hat keine Probleme, Nachwuchs für seine Arbeitsgruppe aus 25 Mitarbeitern und rund 30 Studenten zu finden: „Das Thema ist so spannend, dass das Interesse sehr groß ist.“
Viele neue Lösungen ohne KI undenkbar
Andrei Saupe trägt nach eigenen Worten das „KI-Virus“ schon seit 2007 in sich. „Damals habe ich an einem Dialogsystem auf Basis Künstlicher Intelligenz gearbeitet“, erinnert sich der Senior Manager bei Porsche Engineering, der seit 2017 in Cluj-Napoca unter anderem für alle KI-Aktivitäten verantwortlich ist. „Seitdem bin ich von Künstlicher Intelligenz fasziniert, weil wir damit Lösungen finden können, die ohne KI undenkbar wären – für neue Fahrerassistenzsysteme, das autonome Fahren und die Personalisierung etwa des ACC.“
„Cluj ist eine IT-Stadt. Das haben viele große Unternehmen und Start-ups erkannt, die sich hier niederlassen.“ Andrei Saupe, Senior Manager Porsche Engineering
Auch Saupe betont die Vorteile des Standorts in Transsilvanien. „Cluj ist eine IT-Stadt“, sagt er. „Das haben viele große Unternehmen und Start-ups erkannt, die sich hier niederlassen.“Für Porsche Engineering als Arbeitgeber spricht aus seiner Sicht neben der guten Atmosphäre im Team vor allem die Art der hier bearbeiteten Projekte: „In Cluj gibt es viele Unternehmen für IT-Outsourcing, aber die Entwickler wollen lieber an einem automobilen Produkt mitarbeiten – das macht Porsche Engineering zu einer interessanten Adresse für Absolventen und Experten mit Berufserfahrung.“ Sie können hier eine ganze Palette aktueller KI-Methoden einsetzen, darunter Neuronale Netze, Recurrent Neural Networks, Convolutional Neural Networks, Reinforcement Learning, Decision Trees oder Support Vector Machines. „Wir setzen aber nicht diejenigen Werkzeuge ein, die gerade in Mode sind“, betont Saupe. „Stattdessen verwenden wir, was zur jeweiligen Aufgabe passt und sich ins Fahrzeug integrieren lässt. Genau das ist ja unsere Herausforderung: Wir müssen KI fürs Auto nutzbar machen – und dabei immer auch die Sicherheit aller Funktionen im Blick behalten.“
Weil das Thema KI in Zukunft noch weiter an Bedeutung gewinnen wird, koordiniert Dr. Joachim Schaper seit Juli 2019 die Aktivitäten von Porsche Engineering in diesem Bereich – und die Zusammenarbeit mit den anderen Standorten des Unternehmens. „In Prag gibt es auch einige KI-Aktivitäten, allerdings beschäftigen sich unsere Kollegen dort vor allem mit Elektronik- Hardware“, so der erfahrene Forschungsmanager. „In Mönsheim entstehen wiederum viele Daten, die wir in KI-basierten Funktionen nutzen können – etwa für das Batteriemanagement.“ Hier wartet aus seiner Sicht ein weiteres attraktives Anwendungsfeld auf den Einsatz von Künstlicher Intelligenz: Algorithmen könnten nicht nur Probleme in den Batteriezellen vorhersagen, sondern aus der Belastung des Energiespeichers auch seinen Restwert ermitteln. Eine interessante Idee, die vielleicht bald von den KI-Experten in Cluj-Napoca aufgegriffen wird.
„Unsere Entwickler lieben Anspruchsvolle Projekte“
Marius Mihailovici ist seit 2016 CEO von Porsche Engineering in Cluj-Napoca. Im Interview spricht er über Chancen und Herausforderungen der Künstlichen Intelligenz sowie die Stärken des Standorts in Rumänien.
1. Welche Rolle spielt Künstliche Intelligenz für die Zukunft der Automobilbranche?
Ohne KI im Fahrzeug wird es künftig nicht mehr gehen. Sie unterstützt den Menschen und macht den Verkehr sicherer und effizienter. Darum wird sie im kommenden Jahrzehnt der „Game Changer“ in unserer Branche sein. Fahrzeuge auf SAE-Level 3 gibt es bereits, Level 4 und 5 werden wir in den nächsten zehn Jahren sehen. Auf dem Weg dorthin müssen wir uns aber nicht nur mit der Software beschäftigen, sondern mit dem gesamten Ökosystem: den rechtlichen Rahmenbedingungen, den ethischen Fragen und den Grenzen von KI. Denn manches können Maschinen – zumindest heute – nicht lernen. Schließlich hat jeder Mensch seit seiner Kindheit eine jahrzehntelange Lernkurve hinter sich.
„Hier in Cluj können wir das Potenzial der Softwareentwickler nutzen, um neue Features zu entwickeln – und damit Teil der Automotive-Zukunft zu sein.“ Marius Mihailovici, CEO von Porsche Engineering in Cluj-Napoca
So erkennt unser Gehirn ganz automatisch, dass ein Kind auf dem Gehweg jeden Moment auf die Straße laufen könnte – und bereitet sich darauf vor. Eine Herausforderung wird sein, dieses Wissen in die Software zu transferieren.
2. Warum ist Cluj-Napoca ein attraktiver Standort für die KI-Aktivitäten von Porsche Engineering?
Hier kommen einige Faktoren zusammen. Durch die Technische Universität gibt es hier viele gut ausgebildete Software-Experten. Sie sind nicht nur kompetent, sondern auch stark auf Ergebnisse fokussiert und aufgeschlossen für neue Technologien wie Künstliche Intelligenz. Unsere Entwickler lieben anspruchsvolle Projekte, wollen ständig dazulernen und arbeiten gerne in internationalen Teams. Hinzu kommt, dass viele von ihnen deutsch sprechen und es hier in Transsilvanien auch eine kulturelle Nähe zu Deutschland gibt. So entstand 2014 die Idee, all diese Vorteile für uns zu nutzen. Und das ist auch das Spannende an meiner Aufgabe: Hier in Cluj können wir das Potenzial der Softwareentwickler nutzen, um neue Features zu entwickeln – und damit Teil der Automotive-Zukunft zu sein.
3. Wie schwer ist es, hier Top-Talente zu gewinnen?
Sehr schwer, weil es hier außer uns noch viele weitere Software-Unternehmen auf der Suche nach guten Mitarbeitern gibt. Außerdem erleben wir in der Automobilindustrie gerade besonders spannende Zeiten, weil sich die Branche nicht zuletzt durch KI grundlegend verändert. Wer bei uns arbeitet, kann diese Entwicklung direkt mitgestalten. Wir bieten unseren Entwicklern ein fast familiäres Umfeld, das von Vertrauen und Transparenz geprägt ist. Das ist für viele Mitarbeiter eine attraktive Perspektive.
Porsche Engineering in Cluj-Napoca
Cluj-Napoca ist mit rund 400.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt in Rumänien. Das ehemalige Klausenburg liegt in der historischen Region Siebenbürgen. Der Zusatz „Napoca“ stammt von einer Römersiedlung an gleicher Stelle. Heute ist die Stadt geprägt von zahlreichen Hochschulen sowie von vielen IT-Unternehmen, die sich dort niedergelassen haben. Porsche Engineering ist seit 2016 in Cluj-Napoca.
Die Experten dort nutzen modernste KI-Methoden für neue Fahrerassistenzsysteme, das autonome Fahren und innovative Entwicklungstools. Der Standort profitiert von der hohen lokalen IT-Expertise und einer langen Tradition der KI-Entwicklung.
Info
Text: Christian Buck
Mitwirkende: Rares Barbantan, Andrei Saupe, Joachim Schaper, Tudor Ziman
Fotos: Mihail Onaca, Lavinia Cernau
Text erstmalig erschienen im Porsche Engineering Magazin, Nr. 2/2019