Michael Mauer hat immer ein Notizbuch dabei. In Meetings, auf Zugfahrten – er ist ständig am Zeichnen, um seine Ideen zu Papier zu bringen. „Meine Frau mache ich damit manchmal wahnsinnig“, gibt der 58-Jährige zu. „Selbst am Frühstückstisch zeichne ich, und fast immer werden es Fahrzeugbilder. Ich kann einfach nicht anders.“

Es mag wie ein Klischee klingen, aber der Mann, der bei Porsche seit 2004 für das Design verantwortlich ist, lebt und atmet seine Aufgabe. In Zeiten des Lockdowns wächst die Zahl seiner kleinen Skizzen schneller denn je. Für eine neue Reihe, die Automobil-Enthusiasten Gelegenheit geben soll, ihre Fähigkeiten auch in Zeiten von Ausgangsbeschränkungen zu verfeinern, erklärt er, wie man die Porsche-Ikone schlechthin zeichnet: den 911.

„Als Designer kann man viele Probleme durch Zeichnen angehen. Manchmal sehen wir uns ein Modell – sei es aus Ton oder aus VR-Daten – während der Designphase an und stellen fest, dass irgendetwas noch nicht ganz stimmig ist. Vielleicht fällt die Dachlinie zu stark ab, oder wir stehen vor einer technischen Herausforderung. Wenn das passiert, nehme ich meinen Stift und skizziere ein paar Einzelheiten zu dem jeweiligen Element. Ich versuche, das Problem mithilfe von Zeichnungen zu lösen.“

Als Mauer Doug Chiang kennenlernte, den legendären Star-Wars-Designer, erwähnte er ein Konzept, das dem Porsche-Chefdesigner sehr gefällt: ‚happy accident‘, also ‚glücklicher Zufall‘. „Ich fertige so viele Zeichnungen an – das geht in die Hunderte und Tausende. Oft sehe ich mir an, was meine rechte Hand da aufs Papier bringt, und bin dann selbst überrascht vom Ergebnis. Wenn man auf eine Zeichnung blickt und feststellt, dass daraus etwas werden könnte, dann ist das quasi ein glücklicher Zufall.“

„Die Proportionen des Taycan sind einzigartig“

Michael Mauer, Leiter Style Porsche, spricht im Interview über detaillierte Exterieur-Skizzen des Taycan, erklärt die unterschiedlichen Ebenen der Porsche Marken- und Produktidentität und erläutert die Designphilosophie für die rein elektrisch betriebenen Fahrzeuge von Porsche.

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Der Taycan ist vielleicht das beste Beispiel zu dieser Theorie. Fast schon unglaublich: Das Design des ersten komplett elektrischen Sportwagens von Porsche entstand, nachdem Michael Mauer die technische Zeichnung eines 918 anders interpretierte als gedacht. So kam es zu einer neuen Idee; die Saat war gelegt.

„Ich ging eines Tages durch das Studio und kam am Schreibtisch eines jungen Designers vorbei. Zu der Zeit waren wir gerade in der Endphase der Arbeit am 918. Ich sah da eine ganz grobe Skizze und dachte: ‚Wow!‘ Daraufhin sagte ich zu dem Designer: ‚Das ist cool – die Vorstellung eines viertürigen 918. Ich bin noch gar nicht darauf gekommen, dass man einen Supersportwagen auch mit mehr als zwei Sitzen ausstatten könnte. ‘ Er sah mich verständnislos an. Ich zeigte auf eine von ihm gezeichnete Linie, die ich für die Shutline der Hintertüre hielt, und merkte an, dass wir da die nächste Generation des Supersportwagens vor uns hätten. Er erwiderte: ‚Nein, nein, nein!‘“ Wie er Mauer dann erklärte, sollte die Linie nur für den Tonmodellierer veranschaulichen, wo eine positivere Oberflächenbehandlung bei dem 918-Modell erfolgen sollte.

„In dem Moment war uns das nicht klar, aber dort nahm das Design des Taycan seinen Anfang. Wir haben die Idee eines Fahrzeugs mit vier Sitzen und den Proportionen eines Supersportwagens weiterentwickelt, und wenig später, als wir über den ersten komplett elektrischen Porsche sprachen, kamen wir auf diese Zeichnung zurück, die ich falsch verstanden hatte. Das war ein sehr glücklicher Zufall. Wenn ich den Taycan sehe, denke ich an diesen Moment zurück.“

Michael Mauer und sein Team arbeiten aktuell schon an den Designs von Fahrzeugen der übernächsten Generation. Dabei steht auch die Frage im Raum, wie die Mobilität im Jahr 2030 konkret aussehen könnte. Zunächst einmal ist aber zum Eindämmen der Covid-19-Ausbreitung die Bewegungsfreiheit eingeschränkt, und so verrät Michael Mauer ein paar seiner Tricks.

Michael Mauer verrät ein paar seiner Tricks

„Was beim Zeichnen von Fahrzeugen mit am wichtigsten ist: die Darstellung der Dreidimensionalität. Manchmal muss man da stärker betonen. Übertreiben. Denken Sie an Karikaturen: Man weiß sofort, dass man eine vor sich hat, wenn jemand mit einer übertrieben großen Nase – sehr lang oder sehr breit – zu sehen ist. Die Menschen haben in der Realität nicht so ein großes Riechorgan, aber vielleicht ist die Nase das Merkmal, an dem man sie am besten erkennen kann. Beim Zeichnen eines Fahrzeugs ist das – zumindest ein bisschen – ähnlich. Man könnte zum Beispiel die Räder etwas größer zeichnen. Man muss sich den Charakter vor Augen führen, den das Fahrzeug haben soll.“

Manchmal versuche er auch, Archetypen aus der Fahrzeuggeschichte zu zeichnen. „Ich denke an ein bestimmtes Fahrzeug – keinen 911, da ich den so gut kenne, aber vielleicht einen [Land Rover] Defender. Welche zwei, drei oder vier Linien sind – wenn man keine weiteren Details oder Farben hinzufügt – so charakteristisch, dass sie dieses Fahrzeug ausmachen?“ Es gebe sehr einfache Fahrzeuge, andererseits aber auch sehr komplizierte Fahrzeuge. „Diese komplizierten Fahrzeuge haben keine so starke Identität. Wenn ein Fahrzeug keine starke Identität hat, ist es schwer, mit dem Design eine Markenidentität zu erschaffen. Beim Zeichnen eines Fahrzeugs ist es wirklich hilfreich zu verstehen, welche Linien das Design wesentlich prägen.  So wie beim 911, dessen Form ich jetzt Schritt für Schritt erkläre.“

1.

„Wenn man zehn Fahrzeugdesigner bitten würde, einen Zeichenprozess zu erläutern, bekäme man fünf verschiedene Ansätze. Einige Designer fangen mit beiden Rädern an, andere beginnen mit dem Vorderrad, um dann zunächst die Fahrzeugfront zu zeichnen, bevor irgendwann später das zweite Rad folgt. Es spielt keine Rolle, welchen Ansatz man wählt. Ich selbst fange immer mit beiden Rädern an, denn eine der Herausforderungen beim Zeichnen ist das Bestimmen des Achsabstands und der richtigen Proportionen. Man muss eine Vorstellung davon haben, wo das Hinterrad sein sollte. Mit dieser Methode zeichne ich manchmal weiter und stelle dann fest, dass das Hinterrad die falsche Position hat. Dann lösche ich es und fange von vorn an. Wenn Sie Ihre Räder zeichnen, haben Sie die Wahl, ob Sie mit zwei einfachen Kreisen beginnen oder schon etwas hinzufügen. In diesem Fall habe ich mal die Idee eines Fünfspeichenrads aufgegriffen.“

911-Skizze 1/10, 2020, Porsche AG

2.

„Sobald die Räder platziert sind, holt man das Fahrzeug im nächsten Schritt auf den Boden der Tatsachen: Sie zeichnen die Linie zwischen den Rädern. Davon ausgehend können Sie den Umriss aufbauen. Designer und Ingenieure sprechen von der „Y zero section“; im Wesentlichen ist damit die Silhouette gemeint. Beim 911 hat sie wirklich Kultcharakter. Manchmal stellt man fest, dass die Silhouette und der Achsabstand nicht zueinander passen. Dann muss man über eine andere Position des Hinterrads nachdenken – das ist aber kein Problem; dafür gibt es Radierer.

911-Skizze 2/10, 2020, Porsche AG

3.

„Schritt für Schritt fügen wir Einzelheiten hinzu. Designer bezeichnen die Fenster oft auch als „Daylight Opening“, also quasi als verglaste Öffnung. Ich glaube, dieser Begriff wurde erfunden, damit wir uns so unterhalten können, dass uns sonst niemand versteht … Beim 911 ist die Daylight Opening sehr charakteristisch und ganz anders als bei einem Cayenne oder Panamera, da dies Viersitzer sind. Dieses Element ist eines der ersten, das ich hinzufüge. Danach kommt der Frontscheinwerfer, bevor dann weitere Details im hinteren Bereich folgen. Sie sehen hier, dass die Form des Stoßfängers dazugekommen ist und auch die Heckleuchte.“

911-Skizze 3/10, 2020, Porsche AG

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„Beim Zeichnen eines Fahrzeugs werden Schichten aufgebaut, um nach und nach mehr Einzelheiten hinzuzufügen. Die größte Herausforderung ist es immer, mit dem Zeichnen aufzuhören. Manchmal ist eine Zeichnung schöner, wenn man das Prinzip „Weniger ist mehr“ beachtet. In dieser Phase ist der Frontscheinwerfer jetzt ellipsenförmig. Ich habe den unteren Kühllufteinlass hinzugefügt, und der untere Türabschluss nimmt etwas mehr Form an. Beachten Sie die Lufteinlässe unten am Stoßfänger und das Detail am hinteren Kotflügel. Ich versuche, den Eindruck einer kräftigen Schulter entstehen zu lassen. Zwischen den Rädern gibt es jetzt einen sehr feinen Strich, knapp unterhalb Gürtellinie. Ganz schmal und im vorherigen Bild noch nicht vorhanden. Dieser feine Strich lässt die Seite ein wenig dreidimensionaler wirken. Dass dieser feine Strich zum Hinterrad hin abfällt, ist kein Zufall. Wenn man sich den 911 von oben ansieht, fällt auf, dass die hintere Spurweite ein wenig größer ist. Diese blasseren Linien veranschaulichen das.“

911-Skizze 4/10, 2020, Porsche AG

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„Nun kommen immer mehr Details dazu: Hier der Türgriff, außerdem noch ein paar Linien in unterschiedlichen Stärken. Damit betonen wir ein Element oder machen es unauffälliger. Immer geht es darum, einen dreidimensionalen Eindruck zu vermitteln. Wenn Sie die Möglichkeit haben, parken Sie Ihr Fahrzeug einmal vor einem schönen Hintergrund und fotografieren Sie es. Sie werden dann Linien sehen, die auf die positive und die negative Oberflächenbehandlung hinweisen. Versuchen Sie, diese Linien in Ihren Zeichnungen nachzubilden. Damit bringen Sie Leben in Ihre Zeichnung.“

911-Skizze 5/10, 2020, Porsche AG

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„Die ersten fünf Zeichnungen bestanden aus Linien. Nun ist es Zeit, dass Tiefen und Kontrast hinzukommen. Die Fahrzeugschulter hat immer noch keine Farbe, da sie den Eindruck einer Lichtreflexion vermitteln soll. Betrachten Sie einmal Fahrzeugfotos, und sehen Sie sich an, welche Bereiche hervorgehoben werden und welche im Schatten liegen. In Teil 1 der Reihe #GetCreativeWithPorsche sprach der Automobilfotograf Richard Pardon darüber, wie man das Design eines Fahrzeugs mit Licht betonen kann. Genau das versuchen wir hier in Form einer Zeichnung auch.“

911-Skizze 6/10, 2020, Porsche AG

7.

„Der nächste Schritt macht besonders viel Spaß: Wir bringen Farbe ins Spiel und verbinden alles miteinander. In Photoshop entspräche das dem Hinzufügen einer weiteren Ebene. In der blauen Farbe im oberen Bereich spiegelt sich der Himmel; unter der Linie, wo es dunkler ist, wird der Untergrund reflektiert. So wirkt das Fahrzeug gewissermaßen geerdet. Man braucht Photoshop dazu aber nicht – ich bin tatsächlich kein großer Experte für das Programm. Versuchen Sie es mit Wasserfarbe oder Buntstiften.“

911-Skizze 7/10, 2020, Porsche AG

8.

„Jeder Designer hat bei Glas eine eigene Herangehensweise. Ich zeichne es in dieser Phase gern schwarz, ebenso wie die Räder. Lichter können wir im nächsten Schritt hinzufügen. Üblicherweise zeichne ich Skizzen im Miniaturformat. Am Anfang ist das vielleicht auch für Sie leichter; man hat dabei mehr Kontrolle.“

911-Skizze 8/10, 2020, Porsche AG

9.

„Betrachten Sie hier die Daylight Openings. Das Seitenfenster ist unterteilt: Der obere Bereich ist schwarz, der untere heller. Dadurch entsteht der Eindruck einer Krümmung. Bei sehr alten Fahrzeugen ist die Glasfläche ganz gerade gewesen, jetzt ist das Glas der Seitenscheiben aber gebogen. Das können Sie mit einer leichten Farbänderung veranschaulichen. In der Rendering-Phase wird aus der Bleistiftskizze eine sehr viel raffiniertere Zeichnung.“

911-Skizze 9/10, 2020, Porsche AG

10.

„Wenn man auf Papier arbeitet, in einer Dimension, muss man mit Farben und Schatten tricksen, um Tiefe entstehen zu lassen und eine Vorstellung vom fertigen dreidimensionalen Produkt zu geben. Sehen Sie sich noch einmal das Foto an, das Sie von Ihrem Fahrzeug aufgenommen haben. An welchen Stellen können Sie durch das Glas hindurchschauen? An welchen Stellen spiegelt sich Licht in der Karosserie? So etwas ändert sich je nach Standort, aber es ist hilfreich, einmal genau zu untersuchen, wie Schatten auf den verschiedenen Oberflächen erscheinen. Hier heben wir wichtige Bereiche mit weißer Farbe hervor. Leuchten und Bremssattel werden ein wenig bunter. Zeichnen Sie vielleicht noch das Lenkrad ein. Eventuell sieht man auch noch einen Teil des Sitzes.“

911-Skizze 10/10, 2020, Porsche AG

Einen Tipp zum Schluss hat Michael Mauer noch: „Man sollte seine Zeichnungen aufbewahren“, findet er. „Manchmal ist es schön, die Arbeiten später wieder zur Hand zu nehmen. Ich sehe dann gleich, ob ich zur betreffenden Zeit in einem Meeting war. Wenn ja, ist auch zu erkennen, ob die Besprechung interessant war oder für meine Abteilung eher weniger Relevanz hatte oder“, lacht er, „ob es dabei um Budgets ging. Manchmal denke ich ‚oh, das ist schrecklich‘ oder ‚da hatte ich wohl einen schlechten Tag‘.“

Beim Designen gehe es immer um das Ausprobieren. „Ich kann jeden nur ermutigen, einfach mal einen Stift in die Hand zu nehmen und loszulegen.“

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