Der 1799 entdeckte Rosetta-Stein gilt als Meilenstein zur Entzifferung der ägyptischen Schriften. Er enthält ein auf 196 v. Chr. datierbares Priesterdekret aus der altgriechisch-makedonisch-ptolemäischen Dynastie in drei verschiedenen Sprachen. Durch den Vergleich der Texte und Schriftzeichen bot er einen Hebel zur Entschlüsselung der bis ins 19. Jahrhundert nicht entzifferbaren ägyptischen Hieroglyphen. Seit dieser Zeit wird der Begriff „Rosetta-Stein“ verwendet, um auf einen wesentlichen Hinweis bei Entschlüsselungsaufgaben zu verweisen. Heute gelten KI-basierte Sprachmodelle, sogenannte Large Language Models (LLMs), als Rosetta-Stein der Zukunft. „Ein Large Language Model basiert auf neuronalen Netzen und ist in der Lage, die Bedeutung natürlicher Sprache im Kontext zu entschlüsseln und maschinell aufzubereiten. LLMs können Sprache verstehen, verarbeiten und übersetzen, aber auch neue Texte generieren“, erklärt Dr. Joachim Schaper, Leiter Fachdisziplin KI und Big Data bei Porsche Engineering.
Porsche Engineering setzt LLMs ein, um die Effizienz im Entwicklungsprozess weiter zu erhöhen. Das Unternehmen bedient sich dabei kommerziell verfügbarer LLM-Tools wie ChatGPT von OpenAI oder LLaMa von Meta. „Diese Modelle sind durch sehr große Datenmengen aus dem Internet vortrainiert und decken Aufgaben wie die Texterstellung über Standardthemen sehr gut ab. Für die Anwendung in der Entwicklung benötigen wir jedoch ein LLM, das zusätzlich unser Ingenieurs-Know-how berücksichtigt“, so Schaper.
Das fachliche Wissen von Porsche Engineering Wird der KI durch eigene Datensätze aus abgeschlossenen Entwicklungsprojekten antrainiert. Ein Anwendungsgebiet von LLMs ist die Überarbeitung on Kundenlastenheften. Je nach Projekt, Auftraggeber und Entwicklungsteam sind deren Inhalte in ganz unterschiedlicher Form verfasst. Soll ein bestehendes System im Rahmen einer Weiterentwicklung technisch aktualisiert werden, erhält Porsche Engineering oftmals von Kunden die Anforderungen aus vorhandenen Lastenheften und die Änderungsumfänge.
Bevor die eigentliche Entwicklungsaufgabe startet, müssen die Entwickler die Kundenvorgaben komplett durcharbeiten und die dort enthaltenen Informationen in konkrete technische Spezifikationen überführen, um Entwicklungsfehler durch missverständliche Vorgaben zu vermeiden. Seit Kurzem verwendet Porsche Engineering bei der Überarbeitung von Lastenheftanforderungen vorgefertigte Satzschablonen: Ein Grundprinzip des Requirements Engineering zur standardisierten und qualitativen Erstellung von Anforderungen. Mithilfe dieser Methodik werden die Informationen so dargestellt, dass sie eindeutig, konsistent, überprüfbar, korrekt und verständlich sind. „Die Überarbeitung des Lastenhefts müssen unsere Ingenieurinnen und Ingenieure heute als manuelle Tätigkeit erledigen. Das bindet Ressourcen in der Entwicklung und ist eine eintönige Tätigkeit für die Mitarbeitenden“, meint Volker Reber, Leiter Fachdisziplin High Voltage System Development bei Porsche Engineering.
Den Sinnzusammenhang verstehen
Mit klassischen Algorithmen kann diese Aufgabe nicht automatisiert werden. Denn oftmals sind die Formulierungen im Lastenheft nicht eindeutig – dann muss aus dem Sinnzusammenhang interpretiert werden, welche Information gemeint ist. Konventionelle Softwareprogramme können diesen intellektuellen Schritt nicht leisten, wohl aber die KI. Künftig unterstützen daher LLMs die Überarbeitung der Lastenhefte. „Als Demonstrationsprojekt haben wir den Anforderungskatalog einer Komponente eines Fahrzeugs überarbeitet“, berichtet Reber. Für das Training des LLMs reichte ein Datensatz mit einigen Hundert Informationen aus, um es auf die neue Aufgabe vorzubereiten. Das Modell lernte dabei, mit unterschiedlichen semantischen Formen in den Ursprungstexten umzugehen, und eignete sich zudem die Textmuster für die Ausgabe an.
„Das aus einigen Tausend Einzelinformationen bestehende Lastenheft konnte nach diesem Schritt erheblich schneller als bei manueller Bearbeitung in das Standardformat überführt werden“, so Reber. Als Erweiterung des Projekts wird das trainierte LLM für zusätzliche Aufgaben im Bereich der Lastenheft- Überarbeitung eingesetzt, wie die Kontrolle auf Vollständigkeit und Konsistenz im Hinblick auf die darin beschriebenen Anforderungen unterschiedlicher Systeme des Fahrzeugs. Die Ingenieurinnen und Ingenieure müssen das Ergebnis des LLM „nur“ noch prüfen, und auch damit werden sie im Laufe der Zeit immer weniger Aufwand haben. „Da die KI durch eine Rückkopplung der Ergebnisse weitertrainiert wird, nimmt die Qualität des LLM bei jedem Projekt kontinuierlich zu. Künftig wird sie nicht nur schnellere, sondern auch wesentlich bessere Umsetzungen liefern, als es ein Mensch jemals könnte“, meint Schaper. Bereits beim ersten Testeinsatz hat das LLM den Aufwand um rund 50 Prozent verringert. Darüber hinaus gibt es schon Ideen für weitere Optimierungen, sodass sich dieser Wert noch deutlich steigern lässt. Trotzdem wird das menschliche Fachwissen bei diesen Aufgabenstellungen auch zukünftig benötigt.
Für Porsche Engineering hat die Kombination von spezifisch konzipierten und trainierten KI-Systemen und menschlichem Know-how eine strategische Bedeutung. Viele ingenieurtechnische Aufgaben bestehen aus Teilbereichen, die unterschiedliche Grade an Expertise, Erfahrung und Einschätzung benötigen. Einige Unternehmen setzen für bestimmte Tätigkeitsbereiche bereits auf Regionen mit der besten Personalkostenstruktur. Porsche Engineering setzt für vergleichbare Tätigkeiten auf die Nutzung von Werkzeugen wie KI und verfolgt weiterhin eine Hochkompetenzstrategie bei den Mitarbeitenden. Die Fachexperten können ihre wertvolle Arbeitszeit dann auf den Hochkompetenzanteil der Aufgabenstellung konzentrieren. Auch in anderen Bereichen der Fahrzeugentwicklung bieten LLMs Potenziale zur Effizienzsteigerung. Ein Beispiel ist das Datenmanagement bei Testfahrten mit neuen Fahrzeugen oder Systemen. Stellen die Testfahrerinnen oder Testfahrer während der Versuche eine Fehlfunktion fest, protokollieren sie diese und speisen sie in ein zentrales Datenbanksystem ein.
„Heute haben wir die Herausforderung, dass unerwartete Systemreaktionen oftmals nicht als schon erfasstes Phänomen identifiziert und mehrfach in das System eingegeben werden“, erklärt Dr. Fabian Hinder, Fachprojektingenieur bei Porsche Engineering. Das erschwert die systematische Fehlersuche, da die Auswertung der Datenbankinformationen mit erheblichem manuellem Aufwand verknüpft ist.
Rückmeldung in Echtzeit
Ähnlich wie bei der Lastenhefterstellung werden auch hier LLM-Werkzeuge Aufgaben wie die Umwandlung der Eingabedaten in vorgefertigte Semantikmuster und den Abgleich mit vorhandenen Datenbankeinträgen übernehmen. Das Potenzial des Ansatzes hat ein Team von Porsche Engineering im Rahmen eines Projekts im Bereich der Fahrzeug-Konnektivität nachgewiesen. „Die Testingenieurin oder der Testingenieur gibt noch während der laufenden Tests die Information zu seinem Problem in das System ein, und die KI gibt in Echtzeit eine Rückmeldung, welche ähnlichen Fehler bekannt sind“, so Hinder. Die Person entscheidet dann, ob eines der gespeicherten Muster zu ihrem oder seinem Eintrag passt oder ob ein neuer Datenbankeintrag erstellt werden soll. Fehler können somit konzernweit identifiziert und über mehrere Fahrzeugmodelle und -plattformenhinweg zugeordnet werden. Ein weiteres LLM-Projekt führt Porsche Engineering derzeit unter der Leitung des Innovations-Managements von Porsche durch. Auch hier soll eine alltägliche Arbeitshandlung vereinfacht und beschleunigt werden.
„Entwicklerinnen und Entwickler müssen die im Unternehmen aggregierten Daten zu einer Problemstellung heute händisch in der zentralen Datenbank abfragen. In unserem Leuchtturmprojekt erstellen wir ein Konzept, mit dem das LLM künftig diese Tätigkeit ausführt“, sagt Antoon Versteeg, Innovationsmanager bei Porsche und verantwortlich für das Innovationsportfolio Intelligent Enterprise. „Im Unterschied zu den anderen LLM-Anwendungen haben wir es dabei allerdings mit einer sehr großen Anzahl an komplexen numerischen Daten zu tun, die verarbeitet und abgeglichen werden müssten.“
Daher wenden die Softwareentwicklerinnen und -entwickler mehrere Kniffe an, bei denen mehrere Verfahren der klassischen numerischen Methoden und der KI kombiniert werden. Die Expertinnen und Experten erhalten so schon nach wenigen Sekunden Ergebnisse. „Bei der Nutzung von LLMs steht die Automobilbranche erst am Anfang, dank der frühzeitigen Adaption in unseren Projekten erhöhen wir die Effizienz im Entwicklungsprozess durch die Integration von LLM-Tools bereits jetzt signifikant“,so Schaper. „Die datengetriebene Entwicklung ist bei uns in der Porsche AG ein wesentlicher Erfolgsfaktor für die Zukunft. Hierbei kann durch den Einsatz von KI die erforderliche Effizienz im Entwicklungsprozess sichergestellt werden“, erklärt Dr. Bruno Kistner, Abteilungsleiter Datengetriebene Entwicklung bei Porsche. „Dies setzen wir bereits heute sehr erfolgreich ein und bauen dies kontinuierlich mit unseren Partnern wie Porsche Engineering aus.“
Info
Text erstmals erschienen im Porsche Engineering Magazin, Ausgabe 2/2024.
Text: Richard Backhaus
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