Viele Besucher von Le Mans empfinden die Stadt Rouen eher als ein wenig lästig. Zwischen dem Circuit des 24 Heures und dem übrigen Nordfrankreich gelegen, ist Rouen von engen Straßen und Unterführungen durchzogen und besitzt eine scheinbar unendliche Zahl von Ampeln. Die Stadt ist eine Art Nadelöhr für den Verkehr: einerseits wunderschön, aber auch ein Ort, der Autofahrer auf eine harte Geduldsprobe stellt.
Doch die mittelalterliche Stadt hat Motorsport-Fans mehr zu bieten, als es auf den ersten Blick erscheint. In einem idyllischen Waldgebiet südwestlich der Stadt befindet sich eine Rennstrecke, die einst als eine der besten in Europa galt: Rouen-les-Essarts. Diese malerische Rennstrecke wurde 1950 eröffnet und war 5,1 Kilometer lang. Einst fanden hier traditionsreiche Rennen wie die Tour de France Automobile und der Große Preis von Frankreich statt. Der Rundkurs war selbst für damalige Verhältnisse berüchtigt und verzieh keine Fahrfehler.
Anders als „moderne“ Rennstrecken aus der Nachkriegszeit wie Goodwood, Silverstone oder Zeltweg, die auf ausgedehnten, ebenen Flugplätzen gebaut wurden, war Rouen-les-Essarts eine traditionelle, den natürlichen Begebenheiten folgende Strecke; die Topografie des Gebiets schuf hier eine schnelle, flüssige und furchteinflößende Streckenführung mit einem Steigungsprofil, das auch den erfahrensten Fahrern Angst eingejagt haben dürfte. Künstlich angelegte Auslaufzonen, Kiesbetten und Sicherheitszäune suchte man hier vergebens – als Fahrer befand man sich entweder auf der Strecke oder in der Böschung – dazwischen gab es nichts.
Porsche-Werksfahrer Dan Gurney war sich dessen durchaus bewusst, als er 1962 beim ersten Grand Prix auf der Strecke von Rouen seit 1957 antrat: „[Rouen-les-Essarts] ist ein echter Härtetest für Fahrwerk, Getriebe und Lenkung“, sagte Gurney in einem Interview vor dem Rennen. „Die Rennstrecke ist viel schwieriger, als sie aussieht.“
„Die Rennstrecke ist viel schwieriger, als sie aussieht.“ Dan Gurney
Doch abgesehen von seinen Bedenken im Hinblick auf den Zustand der Fahrbahn konnte Gurney dem Rennen zuversichtlich entgegensehen. Denn der anspruchsvolle Kurs spielte ihm in die Hände: Sein Porsche 804 Formel 1 erwies sich während der Testfahrten in kritischen Situationen als zuverlässiger als die schnelleren BRM P57 und Lotus 25.
Daher ging Gurney trotz seiner, wie er es nannte, „verdammten Erkältung“ davon aus, dass er in seinem 804 gegen Ende des Rennens in aussichtsreicher Position liegen würde und erzählte den Reportern: „Ich denke, wir sind ganz gut aufgestellt“.
Und das stimmte auch. In den 54 Rennrunden fuhr Gurney, der sich für die Startreihe drei qualifiziert hatte, ein überaus beständiges Rennen und arbeitete sich Stück für Stück an die Spitze des Fahrerfelds. Während andere Rennfahrer wie Jim Clark, Graham Hill und Jack Brabham aufgrund mechanischer Probleme ausschieden, lief Gurneys 804 wie eine Eins.
Bis zur Zielflagge hatte Gurney es geschafft, seine Verfolger Richie Ginther, Bruce McLaren und John Surtees weit hinter sich zu lassen und damit den ersten und zugleich bisher letzten Grand-Prix-Sieg bei einem WM-Lauf für Porsche einzufahren; das Team aus Zuffenhausen zog sich Ende 1962 aus dem Formel-1-Zirkus zurück.
Für Porsche war dies ein kurzer, aber schöner und sehr bedeutsamer Höhepunkt mitten in der goldenen Ära einer Rennstrecke, die für einige noch immer als die beste in ganz Frankreich gilt. Kurze Zeit später, im Jahr 1968, setzte der Tod des bekannten französischen Fahrers Jo Schlesser beim Großen Preis von Frankreich den Rennen in der Königsklasse auf dieser Strecke ein Ende. Nach einer Reihe weiterer tödlicher Unfälle zu Beginn der 1970er-Jahre wurden Monoposto-Rennen in Rouen vollständig aufgegeben.
Wie viele andere Rennstrecken dieser Zeit kämpfte auch Rouen noch eine Zeit lang ums Überleben. Die Strecke wurde umgebaut und durch eine neue Schikane an der tödlichen Kurve „Six Frères“ entschärft. Letztlich brachten diese Maßnahmen jedoch nicht den gewünschten Erfolg. In den 1980er-Jahren war Rouen-les-Essarts bereits mehr oder weniger in Vergessenheit geraten und 1993 wurde die Strecke endgültig geschlossen.
Heute ist der Standort der einstigen Rennstrecke nur noch an einem einsamen Bushaltestellen-Schild mit der Aufschrift „Circuit Auto“ erkennbar, das ein paar hundert Meter von der Stelle entfernt steht, an der sich einst die Boxengasse befand. Es gibt keine Statuen von Dan Gurney, keine Streckenmarkierungen, keine Tribünen und keine Zeitnehmertürme – letztere wurden 1999 abgerissen. Selbst die alten Boxen dienen heute nur noch als Holzlager.
Doch es ist immer noch möglich, den Weg von Dan Gurney und den anderen mutigen Fahrern nachzuverfolgen, denn es handelt sich – damals wie heute – um öffentliche Straßen. Zwar versucht die regionale Regierung buchstäblich, die Geschichte des Orts durch neuen Asphalt zu überdecken, doch Kurven wie „Six Frères“ und „Virage du Nouveau Monde“, die im ersten Gang genommen werden musste, werden jedem Besucher, der das Archivmaterial gesehen hat, sofort ins Auge springen.
Dies gilt auch für kleinere Details wie das berühmte Kopfsteinpflaster der Haarnadelkurve, das zwar Ende der 90er-Jahre mit einer Bitumendecke versehen wurde, aber jüngst durch den Verschleiß des Straßenbelags wieder ans Tageslicht gelangt ist – fast so, als erwache die Rennstrecke wieder zum Leben.
Von hier aus kann man auch heute noch den wohl interessantesten Streckenabschnitt befahren: die extrem engen Kurven „Virage Samson“ und „Virage de Beauval“, in denen man eine beachtliche Geschwindigkeit mit auf die Gegengerade nehmen kann. Dahinter verschwindet die ehemalige Rennstrecke im dichten Blattwerk des Grésil-Waldes. Hier endet die Straße, doch die Geschichte geht weiter.
Denn genau hier, auf einem Parkplatz links neben der drittletzten Kurve, treffen jedes Jahr Motorsport-Fans zusammen, um über alle möglichen Themen zu plaudern – von ihrer derzeitigen Reise nach Le Mans bis zum Mut von Fahrern wie Hill, Stewart und Gurney, die es einmal mit dieser großartigen Rennstrecke aufgenommen haben. Vielleicht gibt es dort keine Statuen, keine Streckenmarkierungen und keine Tribünen. Aber Leidenschaft. Und Respekt. Etwas, das dafür sorgt, dass Rouen-les-Essarts nie ganz in Vergessenheit geraten wird.