Der Roman ist Weltliteratur. „Emma Woodhouse, hübsch, intelligent und reich, mit einem behaglichen Heim und glücklichen Gaben ausgestattet, schien einige der besten Segnungen des Daseins auf sich zu vereinen“, so führt Jane Austen 1816 ihre Protagonistin ein. Der Vorname Emma, Titel des berühmten Werks, steht für „die Allumfassende, die Große“. Als die Raducanus ihre Tochter so nennen, legen sie ihr Hoffnungen in die Wiege. Emma Raducanu kommt am 13. November 2002 in Toronto zur Welt. Ihr Vater Ian ist gebürtiger Rumäne, ihre Mutter Renee Chinesin. Als Emma zwei Jahre alt ist, siedelt die Familie um nach Großbritannien. Ihr Zuhause in Bromley liegt eine knappe Autostunde südöstlich der Londoner Innenstadt, die Eltern arbeiten in der Finanzbranche. Highbury, die Heimat der fast gleichaltrigen Romanheldin, ist in nahezu identischer Distanz zur City verortet. Aber zwischen den beiden kraftvollen Emma-Biografien klaffen natürlich Welten: Während sich die literarische Figur voll und ganz im Müßiggang verliert, trainiert die reale Athletin von Kindesbeinen an für den Erfolg.
Resilienz und Logik
„Mein multikultureller und mein familiärer Hintergrund haben mich auf jeden Fall geprägt“, erzählt Emma Raducanu, als wir sie beim Fototermin treffen. „Von meiner Mutter habe ich wohl eine große Portion Resilienz mitbekommen – Belastbarkeit, die mir auf dem Tenniscourt hilft. Logisch in Prozessen zu denken, das habe ich eher von meinem Vater. Beide hatten Erwartungen an mich, sie haben mich inspiriert und angespornt.“ Parallel zur Sportkarriere absolviert sie das A-Level, das britische Abitur, mit Bestnoten in Mathematik und Wirtschaft. Und sie brennt für den Motorsport. „Tennis allein“, sagt sie, „wäre zu eindimensional gewesen.“ Das glaubt man ihr sofort – diese junge Frau sprüht vor Neugier und Lebenslust. Ein Ökonomie- oder Jurastudium kann sie sich gut vorstellen. Aber erst mal Tennis.
Damit beginnt sie als Fünfjährige. Sie übt schon vor der Schule und am Abend wieder. Wenn das Flutlicht ausfällt, trainiert sie trotzdem weiter. „Mein Vater hat immer gesagt: Wenn du es bei Dunkelheit kannst, fällt es dir bei Tageslicht leichter.“ Schon als Kind hat sie ihr Ziel klar vor Augen: Sie will im nahen Wimbledon aufschlagen und Grand-Slam-Siege erringen. Als Sechsjährige beginnt sie außerdem, Kart zu fahren. „Ich fand das cool und hatte großen Spaß. Je besser ich wurde, desto mehr genoss ich das Gefühl von Geschwindigkeit und Beherrschung.“ Auch vor Motocross-Rennen schreckt die energiegeladene Emma nicht zurück. „Welches Kind spielt nicht gerne im Matsch?“, fragt sie lachend. „Im Ernst, das war eine Steigerung zum Kartfahren. Motocross verlangt Koordination und Balance – und liefert noch mehr Adrenalin.“
Attribute, die auch beim Tennisspiel gefragt sind. Von ihrem 13. Geburtstag an ist Emma Raducanu bei Turnieren der International Tennis Federation (ITF) für unter 18-Jährige startberechtigt. Nur acht Tage später gewinnt sie als jüngste Turniersiegerin der ITF-Geschichte in Liverpool das Nike Junior International. Der erste Superlativ ihrer jungen Laufbahn.
Elfersound vor Schulbeginn
Längst hat sie einen festen Trainer – und der einen Sportwagen. „Es war pure Motivation, wenn ich morgens um sieben seinen Elfer kommen hörte“, erzählt sie. „Ich bewunderte den Wagen und träumte davon, eines Tages auch einen Porsche zu besitzen.“ Sie pilgert nach Brands Hatch, um sich Rennen des britischen Carrera Cup oder das Finale der Tourenwagen-Meisterschaft anzuschauen. Auch einen Formel-1-Grand-Prix hat sie besucht. „Ich verfolge verschiedene Kategorien. Die Formel E mag ich, weil sie eine umweltfreundliche Innovation ist und die E-Motoren eine sensationelle Beschleunigung bieten. Außerdem sind die vielen Überholvorgänge superspannend. Beim ersten Sieg für Porsche habe ich mich mitgefreut!“ Überzeugen von der Performance eines Elektrofahrzeugs konnte sie sich bereits selbst, im Taycan GTS Sport Turismo. „Das leistungsstärkste Auto, mit dem ich je auf einer öffentlichen Straße gefahren bin.“ Gerne möchte sie wieder Rennen bestreiten. Aber erst mal Tennis.
Im Frühsommer vergangenen Jahres kann sie mittels Wildcard als Nummer 338 der WTA-Weltrangliste in Wimbledon antreten und schafft es ins Achtelfinale – als jüngste britische Spielerin, die bei dem Profiturnier je in die vierte Runde kam. Der nächste Superlativ.
Vollgas 2021
Nur Wochen später dann schon das zweite Grand-Slam-Turnier ihrer Karriere: die US Open. Um in New York spielen zu dürfen, muss sie sich erst einmal durch die Qualifikation kämpfen. Souverän gewinnt sie ihre drei Matches. In Flushing Meadows wird die Qualifikantin zunächst kaum wahrgenommen. Dann meistert sie die ersten drei Runden, siegt im Achtelfinale gegen Shelby Rogers. Im Viertelfinale schlägt sie Olympiasiegerin Belinda Bencic, im Halbfinale Maria Sakkari. Mit einem 6 : 4, 6 : 3 gewinnt sie gegen Leylah Annie Fernandez im Endspiel das Turnier. Inklusive der Qualifikation ist es ihr zehnter Sieg in Folge ohne einen einzigen Satzverlust. Nie zuvor haben eine Qualifikantin oder ein Qualifikant die Trophäe geholt. Die Tenniswelt steht Kopf. Medien jubeln über die Story, ein Sturm von Gratulationen bricht über die Siegerin herein. Selbst das britische Königshaus veröffentlicht Glückwünsche der Queen, Martina Navratilova twittert: „Ein Star ist geboren!“ Die BBC ehrt sie als Sports Personality of the Year, die WTA zeichnet sie als Newcomerin des Jahres aus. Anfang 2022 wird sie für ihre Verdienste um ihr Land als bisher jüngste Frau zum Member of the Order of the British Empire ernannt. Wie kommt man als Teenager damit klar?
„Tennis allein wäre zu eindimensional.“ Emma Raducanu über ihre Liebe zum Motorsport
Jane Austens Heldin Emma Woodhouse hätte leichtes Spiel: von fast jedem geliebt, von kaum jemandem kritisiert. Doch das Leben ist kein Roman. Nicht mit einem Schlag, sondern mit vielen erstklassigen – in der Spitze mehr als 160 km/h schnell – ist Emma Raducanu zur öffentlichen Person geworden. Wie in einem Paternoster fahren Gratulanten und Kritiker mit ihr rauf und runter. Ihr Antrieb im Auf und Ab: „Niemals anhalten, lernen, besser werden, Erfahrungen sammeln.“ Emma hat noch viel vor: So spielte sie 2022 ihren ersten Porsche Tennis Grand Prix in Stuttgart, schaute beim Porsche Carrera Cup in Brands Hatch hinter die Kulissen und drehte im Sommer mit Mark Webber Runden auf dem Porsche Experience Centre in Silverstone. Einige Träume konnte sie sich so schon erfüllen. Was als nächstes ansteht? Erst mal Tennis. Und dann wird man sehen.
Info
Text erstmals erschienen im Christophorus Magazin, Ausgabe 403.
Autorin: Heike Hientzsch
Fotografen: Victor Jon Goico, Paul Zimmer