Chaos ist der Feind des Ingenieurs. Vielleicht sind die Hörsäle während der Strömungsmechanik-Vorlesungen aus diesem Grund eher spärlich besucht. Denn hier geht es um Turbulenzen und damit um eine der grössten Herausforderungen der Mathematik. Komplexe partielle Differentialrechnung, Navier-Stokes-Gleichungen und inhärente Nichtlinearität sind Dinge, von denen man im Alltag selten hört. Aus gutem Grund.
Und doch gibt es Menschen, die genau hier ihre Erfüllung finden. Die abstrakt beschreiben können, wie sich die Geschwindigkeit von Luft in Raum und Zeit ändert, wenn man Viskosität, Druck, Dichte und externe Kräfte variiert. Menschen, die ihre aerodynamischen Theorien in numerische Lösungsansätze fassen können, um damit modernste Simulationsalgorithmen zu Höchstleistungen anzuspornen. Um dem richtigen Ergebnis näher zu kommen, reicht das allerdings nicht. Denn ein Ärgernis dieser höheren Mathematik ist ihr Schmetterlingseffekt – kleine Änderungen in den Anfangsbedingungen können zu grossen Unterschieden in den Ergebnissen führen.
Es braucht also ein Universalgenie. Jemand, der tiefe Kenntnisse von Mathematik, Physik und Simulationstechnik moderner Computersysteme verbindet. Jemand, der auf die Idee kommt, den Heckspoiler eines Le Mans-Prototypen auf einen strassenzugelassenen Elfer zu montieren. Es braucht Mathias Roll.
Dem Elfer hoffnungslos verfallen
Wäre es nach dem Aerodynamiker der GT-Abteilung gegangen, dann hätte der aktuelle Porsche 911 GT3 RS noch radikaleres Flügelwerk. Denn das, was im Jetzt der schärfste Entwurf in Sachen Abtrieb und aktiver Luftwiderstandssteuerung ist, ist für den jungen Ingenieur beinahe schon wieder langweilig. Auf dem Papier und in der Simulation ist er längst drei Schritte weiter.
Doch Roll ist weit mehr als ein kühler Analytiker. Sonst würde er den 3.2er Carrera aus seinem eigenen Geburtsjahr – 1987 – kaum im Alltag fahren. Auch hätte er sonst etwas repräsentativeres als Hochzeitsauto im vergangenen Jahr wählen können. Aber er ist eben auch ein Romantiker. Und dem Elfer hoffnungslos verfallen.
Wie ihm geht es auch den anderen Experten, die wir zum „Speed-Dating“ mit der Modellgeneration 992 treffen. Ob Baureihenchef, Fahrwerksentwickler, Designer, Projektleiter, GT-Guru oder Exclusive-Spezialist – sie alle eint diese eine Liebe: der Porsche 911.
Geschichten voller Leidenschaft und Charakter
Jeder hat seine ganz eigene Geschichte zu erzählen. Ob Matthias Kulla, der als junger Designer durch einen glücklichen Zufall einen 964 Carrera RS als ersten Dienstwagen fahren durfte. Oder Tom Wieler, der sich heute noch an sein Outfit beim Bewerbungsgespräch in Weissach erinnern kann und das Ja-Wort seiner eigenen Schwester schwänzte, weil er an diesem Tag auf seine erste Prototypen-Testfahrt gehen durfte.
Dabei sind die Geschichten mehr als Anekdoten für den Stammtisch. Denn sie alle werden mit glänzenden Augen und mit einer Detailtiefe, als seien sie erst gestern passiert, erzählt. Weil sie sich eingebrannt haben. Weil sie einschneidende, prägende Erlebnisse waren. Es sind Geschichten von Liebhabern, von Enthusiasten und ein bisschen auch von Verrückten. Es sind Geschichten voller Leidenschaft und voller Charakter. Denn – und das ist vielleicht das Interessanteste – sie alle haben ihre ganz eigene Handschrift.
Hier liegt auch das Geheimnis, warum jedes Derivat des 911, so nah es auch am anderen positioniert scheint, im Kern doch völlig verschieden ist. Warum ein Carrera T mehr als eine Ausstattungslinie ist. Weil er eine Idee ist. Eine puristische Interpretation, ein schlanker 911. Einer, bei dem die fahrdynamischen Feinheiten stimmen müssen, weil seine Kunden ihn genau wegen dieses klar definierten Gesamtkonzeptes kaufen und keinen Carrera 4 oder Carrera S. Und wenn sein Fahrwerksentwickler Daniel Steyer die Dämpferreaktion nach dem Überfahren einer scharfen Bodenwelle kommentiert, nachdem er gerade dabei war, seine Faszination für die Baureihe E38 von BMW zu erklären, wird klar, wie diese Definition gelingt: durch tiefstes Verständnis in Sachen Automobil.
Den Elfer in die Zukunft tragen
Und das haben sie alle, auch Stylist Kulla, der in seiner privaten Garage mit einem Fastback-Mustang und einem klassischen Maserati Ghibli nicht nur Schönes, sondern mit einem Jensen Interceptor auch schön Schräges stehen hat. Doch es braucht genau diesen Überblick, diese Weitsicht, um den 911 in die Zukunft zu tragen und dabei die Geschichte fortzuschreiben. Für den Designer ist der 911 Targa in der Heritage Design Edition das beste Beispiel. Er zitiert den Geist des Klassikers und betritt in Sachen Verarbeitung, Farbwelt und Materialität dennoch eine völlig neue Welt.
Eine völlig andere Welt ist auch der Porsche 911 Dakar. Er ist mehr als nur die Verneigung vor dem einstigen Wettbewerbsfahrzeug. Er ist das, was herauskommt, wenn man Grenzen überschreiten darf. Wenn man den stärksten Serien-Carrera-Motor im Heck mit Cayenne-Offroad-Tauglichkeit im Fahrwerk und extremem Rennsport-Leichtbau an der Karosserie kombiniert. Wenn grobstollige All-Terrain-Reifen und Triebwerksunterfahrschutz auf Dünnglasscheiben und Leichtbau-Schalensitze treffen. Wenn Achim Lamparter Ansaugluftführung extra für das Sondermodell ändern muss, weil das Triebwerk im harten Wüsten-Einsatz Sand angesaugt hat.
Alle ziehen an einem Strang
Der 911 kann in alle diese Extreme, weil seine Entwickler sie beherrschen. Weil sie seine Nuancen so fein herausarbeiten können, dass sie sprichwörtlich serienreif sind. Wie klein die Entscheidungsrunden auch heute noch sind, überrascht. Es gibt da etwa einen kleinen runden Stehtisch in der Abteilung, eine Art inoffizieller Feierabend-Treffpunkt. Dort werden die neuen Ideen besprochen, unter vier Augen, oder auch mal acht. Dass das auch heute noch geht, liegt zum einen daran, dass Porsche immer noch erfreulich kompakt organisiert ist. Zum anderen liegt es aber vor allem daran, dass alle an einem Strang ziehen. Weil der Elfer für sie das beste Auto der Welt ist.
Einer, der diese Aussagen jederzeit unterschreiben würde, ist Walter Röhrl. Auch er ist beim Speed-Dating mit von der Partie. Er pilotiert einen Shorebluemetallic-farbenen 911 S/T vom Werk Zuffenhausen über den Schwarzwald bis hinein in die Pfalz und wieder zurück. Auf der letzten Autobahnetappe zurück zum Museumsplatz ärgert er sich auch nach Stunden hinter dem Lenkrad noch über nicht gesetzte Blinker der Vordermänner oder unnötig den Verkehr verlangsamende Elefantenrennen. Denn für Röhrl zählt auch lange nach dem Ende der aktiven Karriere nur eines: Perfektion. Für ihn ist der S/T deshalb ein ganz besonderer 911. Weil er nach seinem Geschmack das perfekte Fahrspass-Rezept ist.
Für den Heimweg steigt Röhrl nach über acht Stunden im Heritage Design-Schalensitz des S/T übrigens in seinen 992 Turbo S. Auf die Frage, ob er jetzt noch die vier Stunden zurück in den Bayerischen Wald fahren würde, antwortet er mit einigem Unglauben: „Natürlich“.
Der Turbo sei schnell und komfortabel, da spiele Distanz keine grosse Rolle, deshalb sei er auch am Morgen direkt von daheim gekommen. Röhrl weiss: „Wenn du einen 911 hast, dann brauchst du kein anderes Auto.“