Sonntagmorgen, Regen. Das 24-Stunden-Rennen von Spa läuft seit über 18 Stunden. In der Garage des Teams Huber Motorsport herrscht eine Art müde Entspannung. Der Tessiner Ivan Jacoma verfolgt das Geschehen zusammen mit seinen Mechanikern zurückgelehnt im Campingstuhl. „Sagt dem Niki, er kann rollen lassen“, scherzt er. Nicolas „Niki“ Leutwiler ist Jacomas Fahrerpartner an diesem Wochenende. Der Landsmann aus Feusisberg steuert den Porsche 911 GT3 R mit der Startnummer 23 gegenwärtig an Platz eins liegend in der Am-Klasse für Gentleman-Piloten. Die ärgsten Verfolger sind soeben an die Box gekommen – Reparaturstopp nach Feindkontakt. Leutwiler, 60 Jahre jung, gilt als safe pair of hands, wie es im anglizistisch geprägten Motorsport gern heisst. Ein Fahrer also, der weiss, wie man ein Rennen nach Hause bringt. Plötzlich geht ein Raunen durch die Reihen: Leutwiler ist gerade live im Fernsehbild, als er in der berüchtigten Mutkurve Eau Rouge die Kontrolle verliert und hart in die Reifenstapel kracht. Der Unfall geht glimpflich aus, das Rennen aber ist gelaufen. Diagnose: Öl auf der Fahrbahn. In Spa ist niemand gefeit – kein Routinier, kein Regengott, kein Weltmeister.
Wo man noch die Backen klemmen muss
Der sieben Kilometer lange Circuit de Spa-Francorchamps inmitten der wallonischen Ardennen gehört zu den traditionsreichsten und gefährlichsten Rennstrecken der Welt. Zwar sind die meisten Auslaufzonen weitläufig, doch das Gros der 21 Kurven ist brandschnell. Eau Rouge und Raidillon bilden eine zusammenhängende Passage: Eingangs am tiefsten Punkt wird nach rechts gelenkt, dann geht’s steil nach oben und während man einzig den Himmel sieht, quetscht einen die Kompression in den Schalensitz. Der Linksknick am Ausgang ist blind – im GT3 bei gut 220 km/h. Vollgas, wenn die Slickreifen frisch sind. Nicht selten kommt es an dieser Stelle vor, dass bei Unfällen die Fahrzeuge von der Bande abprallen und erst exakt auf der Ideallinie zum Stehen kommen. Noch am Tag vor Leutwilers Abflug führte genau solch eine Situation zu einer hässlichen Karambolage. Kaum weniger berüchtigt als Eau Rouge: die Highspeed-Linkskurve Blanchimont gegen Ende der Runde. Auch hier bleibt der Fuss im Idealfall unten. Tempo? Knapp 250. Leutwiler kommentiert: „In Spa muss man eben noch die Backen klemmen.“
Die Beklebung des rund 510 PS starken 911 GT3 R verrät: Das Schweizer Duo Leutwiler und Jacoma ist kein Zufall. „PZ Oberer Zürichsee“ prangt auf der Fahrertür, „PZ Lugano“ auf der gegenüberliegenden Seite. Während Leutwiler als Teilhaber am Porsche Zentrum Oberer Zürichsee involviert ist, führt Jacoma die Geschicke der Tessiner Zentren in Lugano und Locarno. Beide sind Porsche-Enthusiasten durch und durch – und auf den Rennstrecken dieser Welt zu Hause. Leutwiler, seit den Achtzigern aktiv, hat von der IMSA bis Le Mans so ziemlich alles gesehen, zuallermeist aus dem Cockpit eines Sportwagens aus Zuffenhausen. Auch Jacoma, 48, ist schon mehr als zwei Jahrzehnte dabei, gilt als Instanz im Porsche Sports Cup Italia. Der Vorjahresmeister der Cayman GT4 Trophy by Manthey-Racing kennt besonders den Nürburgring bestens.
Die 24 Stunden von Spa stehen bei beiden hoch im Kurs. Leutwiler bestritt das Rennen erstmalig 1990 in einem Carrera der Generation 964 und mit nur einem Fahrerpartner. Der Kraftakt über rund 2’900 Kilometer resultierte in einem viel beachteten neunten Gesamtrang. Jacoma fuhr 2005 in Spa sein erstes 24-Stunden-Rennen überhaupt – am Steuer eines RSR vom Typ 996 ebenfalls auf Porsche. Einen gemeinsamen Start beim heutzutage prestigeträchtigsten aller GT-Rennen hatte das Duo schon länger im Sinn, doch erst in diesem Jahr passten alle Rahmenbedingungen. Mit Jacob Schell fand sich ein dritter schneller Amateurpilot; Nico Menzel, Sohn von Nürburgring-Ass Christian Menzel, komplettierte das schweizerisch-deutsche Aufgebot. Mit Huber Motorsport aus Albaching übernahm ein bayerischer Rennstall den Einsatz des GT3 R.
Achterbahn und Hölle
Der Circuit de Spa-Francorchamps befindet sich mehr oder minder in direkter Nachbarschaft zum Nürburgring, Sir Jackie Stewarts berühmter Grüner Hölle. Die Heilbäder der kleinen Lütticher Provinzstadt Spa und der Luftkurort Nürburg im deutschen Bundesland Rheinland-Pfalz liegen auf der Karte keine 70 Kilometer auseinander. Beide Strecken feiern in dieser Dekade Hundertjähriges und gelten aufgrund ihrer Gebirgslage als besonders unberechenbar, was das Wetter betrifft. „Die schnellen Passagen wie Eau Rouge, Pouhon oder Blanchimont erinnern durchaus an die Nordschleife“, wagt Jacoma einen Vergleich. Als „Ardennen-Achterbahn“ ist nicht umsonst auch der Kurs in Belgien unter einem ehrfürchtigen Spitznamen bekannt. „Natürlich ist die Nordschleife am gefährlichsten, aber unter den modernen Strecken liegt Spa ganz weit vorne.“
Hüben wie drüben trenne spätestens die Nacht die Spreu vom Weizen, meint Leutwiler und freut sich: „Vor fünf Jahren bin ich zum letzten Mal in der Dunkelheit gefahren, vor 16 Jahren in einem GT. Trotzdem habe ich es hier in Spa direkt wieder genossen. Zeitweise war ich bis auf etwas mehr als eine halbe Sekunde pro Runde dran an den Schnellsten. In meinem Alter ist es ein grossartiges Gefühl, wenn man bei solchen Bedingungen die Profis eine Weile im Rückspiegel halten kann.“ Auch Jacoma zehrt vom Fahren zu Unzeiten: „Gerade nachts macht es einen stolz, wenn man schnell und sicher unterwegs ist – in einer Phase, wo Körper und Geist normalerweise ruhen.“
Wie den Nürburgring prägt Spa eine bewegte Geschichte. Die ursprünglich knapp 15 Kilometer lange Strecke aus öffentlichen Strassen war eine zuweilen tödliche Herausforderung. 1970 wurde der Kurs sogar aus dem Grand-Prix-Kalender verbannt – zu schnell und zu gefährlich. Der Neuseeländer Chris Amon hatte im selben Jahr auf March einen geradezu absurden Rundendurchschnitt erzielt: 244,74 km/h. Auf der Nordschleife kamen die Fahrer zu dieser Zeit auf einen Schnitt von rund 180 km/h. Das 24-Stunden-Rennen zwischen den Ortschaften Francorchamps, Malmedy und Stavelot wurde bereits 1924 aus der Taufe gehoben und ist somit nur ein Jahr jünger als das alles überragende Le Mans. Was mit Grand-Prix-Fahrzeugen begann, wurde in den Siebzigern und Achtzigern zum Höhepunkt der Tourenwagensaison. Erst mit der Jahrtausendwende kamen die GT-Rennwagen. Heute ist der wallonische Klassiker das Kronjuwel im Kalender der weltumspannenden GT3-Kategorie und zieht neben den grossen Werken auch potente Privatiers aus aller Welt an. Ein Sieg in Spa zählt nicht weniger als ein Klassensieg in Le Mans oder ein Gesamtsieg am Nürburgring. Porsche gelang 2019 und 2020 ein Doppelschlag – beide Male bei schwierigsten Bedingungen mit Regen und Unterbrechungen.
Für Leutwiler und Jacoma ging es bei ihrem Start zwar nicht um den Gesamtsieg, aber auch in der Klasse der Amateurfahrer hängen die Lorbeeren hoch. Seinen Unfall nimmt Leutwiler gelassen: Es sei nicht so, als habe er nun eine offene Rechnung mit dem Rennen, schon gar nicht nach so vielen Jahren im Rennsport. Vielmehr nehme er die Glücksgefühle mit, die man in Spa erfahre, wenn man schnell unterwegs sei. Das sieht auch Jacoma so – und ohnehin: „Wir möchten wiederkommen. Wenn es passt, schon nächstes Jahr.“