Das Leben von Jonkheer Gijsbert „Gijs“ van Lennep ist beileibe nicht arm an speziellen Momenten. 1971 hatte er auf einem Porsche 917 die legendären 24 Stunden von Le Mans gewonnen. Und wiederholte diesen Triumph 1976 im Porsche 936 noch einmal. Er fuhr in der Formel 1, gewann die Sportwagenklasse des 1.000-Kilometer-Rennens am Nürburgring. Und doch ragt dieser 13. Mai 1973 ein gutes Stück über all die anderen Siege hinaus. Es war das letzte Rennen seiner Art. Und Gijs gewann es. Obwohl noch am Start keiner auch nur eine Lira auf seinen Sieg gewettet hätte.
To finish first, you first have to finish
Die Favoriten, die an diesem Tag zur 57. Ausgabe der Targa Florio antraten, schienen übermächtig. Die bärenstarken Alfa und Ferrari waren klare Favoriten auf den Sieg. Pilotiert von einigen der berühmtesten Piloten ihrer Zeit. Italiener noch dazu, die in der Gunst des sizilianischen Publikums ganz vorne lagen. Noch ahnten nur wenige, dass das Rennen über öffentliche Strassen als Lauf der Sportwagen-Weltmeisterschaft zum letzten Mal stattfinden sollte. Keiner der Abertausend Zuschauer an der Strecke sah den silbernen Porsche 911 RSR mit der auffälligen Martini-Lackierung am Ende auf Platz 1. Selbst Gijs war Realist und hatte einen fünften Platz angepeilt. Aber wie heisst eine der wichtigsten Rennfahrer-Weisheiten? To finish first, you first have to finish. Und so siegte am Ende nicht nur Gijs mit seinem Partner Herbert Müller, sondern auch die Zuverlässigkeit ihres 911 RSR, den sie wenige Monate zuvor bei eisigen Temperaturen auf der Rennstrecke von Paul Ricard gemeinsam mit dem Rennteam aus Zuffenhausen fertig entwickelt hatten. „Am frühen Morgen kratzten wir erst mal das Eis von den Autos. Und dann drehten wir Runde um Runde, bis das Auto so perfekt war, wie wir uns das vorstellten.“
Wann hat ein Rennfahrer schon einmal Gelegenheit, die Schönheiten links und rechts der Strecke zu geniessen?
Fast 50 Jahre nach seinem legendären Sieg kommen wir noch einmal mit Gijs an die Strecke seines legendären Triumphs zurück. Fahren mit ihm die originalen 72 Kilometer des Piccolo Circuito delle Madonie ab, den auch die Teilnehmer der Porsche Travel Experience Sicily auf ihrer Reise besuchen. Vor allem aber werfen wir einen Blick auf die Schönheiten und Attraktionen, die Sizilien links und rechts der ehemaligen Rennstrecke zu bieten hat. Eine Perspektive, die Gjis während seiner aktiven Rennfahrerkarriere niemals einnehmen konnte. Die Targa Florio war viel zu brutal, als dass es sich ein Rennfahrer leisten konnte, auch nur einmal die Augen von der Strecke zu nehmen.
Das Risiko zu sterben war immer mit an Bord. Wie war es, mit Höchstgeschwindigkeit durch kleine Ortschaften und über Landstrassen zu jagen, wo hinter jeder Kurve plötzlich ein Esel auf der Strecke stehen konnte? „Wir sind einfach davon ausgegangen, dass es uns nicht trifft“, erinnert sich Gijs. „Eigentlich war es am Ende ganz einfach: Wir sind jede Runde voll gefahren und durften einfach keinen Fehler machen. Nicht einen. Nicht den kleinsten. Denn dann warst du unweigerlich draussen. Und mit hoher Wahrscheinlichkeit tot.“ Umso mehr geniesst es Gijs heute, ganz entspannt unterwegs zu sein und die Schönheit der sizilianischen Landschaft geniessen zu können. Am liebsten auf dem Beifahrersitz eines aktuellen 911 Targa. Vor allem dann, wenn er von kundiger Hand chauffiert wird.
Im Heute und Morgen verwurzelt
Ayhancan Güven ist einer der talentiertesten Porsche Renn-Junioren. Wie heute üblich, ist er nicht nur im aktuellen 911 GT3 Cup auf der Rennstrecke, sondern auch als Sim- Racer erfolgreich unterwegs. Targa Florio, ja, hat er natürlich schon gehört. Aber nein, Details kennt er keine. Zu sehr ist er im Heute und Morgen verwurzelt, als dass er sich gross mit alten Zeiten beschäftigt. Als wir im Stadtzentrum von Cerda, durch das sie 1973 mit Höchstgeschwindigkeit gerast waren, Halt machen und Gijs aus dem Cockpit des 911 Targa steigt, dauert es nicht lange, bis ihn die alten Männer erkennen, die im Schatten der Kirche den Nachmittag geniessen. Gijs ist eine Legende hier, wo sie die Erinnerung an die grossen Zeiten ihrer Targa Florio pflegen.
Drinnen im Café hängen alte Aufnahmen aus den Tagen des grossen Strassenrennens an den Wänden. Und doch sagen sie dem jungen Barista, der uns einen prickelnd heissen Caffè serviert, herzlich wenig. Rennen, ja doch, da war was hier. Immer wieder mal kämen Leute vorbei, so wie wir heute. Und ja, Daniel Ricciardo sei auch schon mal in seinem Café gewesen. Ob wir ihn kennen, will er wissen - die Formel 1 begeistert ihn.
Das Risiko fährt immer mit – aber was bedeutet das schon?
Reizt ihn als junger Rennfahrer die Formel 1 auch, erkundigen wir uns bei Ayhancan während unserer Fahrt über die kurvenreichen Strecken des Parco dei Nebrodi. Aber der winkt nur ab – er hat andere Ziele. Einen der grossen Langstrecken-Klassiker will er einmal bestreiten – und natürlich gewinnen. Le Mans oder das 24-Stunden- Rennen am Nürburgring. Risiko, sagt er, ist für ihn ein Automatismus, der einsetzt, sobald er hinter dem Steuer eines Rennwagens sitzt. Ist einer von vielen Faktoren, die er kühl kalkuliert. Im Simulator genauso wie im echten Rennwagen auf der Strecke. Risiko bedeutet für ihn nicht die Option, als Rennfahrer sein Leben verlieren zu können, so wie in der Zeit von Gijs. „Risiko bedeutet für mich die Möglichkeit, durch einen Unfall auszufallen und ein Rennen zu verlieren. Ja, die ursprüngliche Form des Risikos ist für mich und meine Konkurrenten heute geringer, kontrollierbarer. Dafür haben sich die Herausforderungen geändert, denen wir als junge Rennfahrer heute gegenüberstehen.“
Mehr Verständnis für komplexe Technologie wird gefordert. Analytisches Herangehen bei der Zusammenarbeit mit dem Team, bei der Abstimmung des Setups. Konzentrierte Arbeit mit den Medien. Aufbau und laufende Pflege einer Social-Media-Präsenz. Bis hin zur perfekten Ernährung. Disziplin in jeder Sekunde. Ein Leben unter totaler Kontrolle. Die er selbst dann beibehält, als wir am Fusse des Ätna im Weingut Pietradolce Halt machen. Alkohol trinkt er nur einmal im Jahr – am Ende der Rennsaison. Zusammen mit seinen Kumpels lässt er’s dann krachen. Während Gijs die charaktervollen, vom dunklen Lavaboden geprägten Rotweine geniesst und sich an den feinen Nuancen, die das Terroir hier hervorbringt, erfreuen kann, folgt Ayhancan interessiert den Ausführungen von Kellermeister Giuseppe Parlavecchio, ohne auch nur einen Schluck zu probieren.
Zwischen Gijs und Ayhancan liegen 50 Jahre – und Welten
Irgendwie, so erscheint es uns, verkörpern Gijs und Ayhancan nicht nur zwei völlig unterschiedliche Rennfahrer-Generationen, sondern muten gleichzeitig ein wenig wie Thesis und Antithesis ein und derselben Sache an.
Warum beschleicht uns diese Analogie gerade hier im kubistisch klar gestylten Beton-Gebäude, das die kunstsinnigen Eigentümer des Weingutes vor wenigen Jahren zwischen die Reben am Fuss des Ätna gestellt haben? Vielleicht deshalb, weil uns die kühle Sachlichkeit der Architektur selbst ein wenig wie die Antithesis zum urbanen Chaos von Palermo erscheint, dem wir uns am frühen Morgen mit unserer Abfahrt ins Landesinnere gerade entwunden hatten. Eine gewagte Analogie, ja. Aber als eine Insel der Extreme präsentierte sich uns eben auch Sizilien an vielen Stellen bei unserer Stippvisite. Zu gerne hätten wir noch weitere Facetten von ihr entdeckt, wären der Reiseroute der Porsche Travel Experience Sicily weiter gefolgt.
Zu den antiken Tempeln von Agrigent. Den spätbarocken Ensembles der Städte im Val di Noto. Oder den Genuss-momenten in den feinen Hotels und Restaurants, die auch diese Porsche Travel Experience prägen. Doch Ayhancan hat in seinem durchgetakteten Terminplan nur zwei Tage Zeit. Die nächste Verpflichtung wartet. Und Gijs ruft eine familiäre Angelegenheit zurück nach Holland. Natürlich wird er noch mal hier vorbeischauen. 2023 vielleicht, wenn sich sein spezieller Sizilien- Moment zum fünfzigsten Mal jährt, der dann sicher auch besonders ausgiebig gefeiert werden wird.
Info
Text erstmals veröffentlicht im Porsche Magazin STORIES.
Autor: Berthold Dörrich
Fotos: Błażej Żulawski
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