„Technisch führende Lösungen für das automatisierte Fahren“

Fortschrittliche Fahrerassistenzsysteme und automatisierte Fahrfunktionen erhöhen den Komfort und die Sicherheit. Jürgen Bortolazzi, Leiter Driver Assistance und Automated Driving bei Porsche, und Albrecht Böttiger, Leiter Advanced Driver Assistance Systems bei Porsche Engineering, sprechen im Interview über den aktuellen Stand der Technik und die Zukunft des Fahrens.

Welche Rolle werden Fahrerassistenzsysteme und das hochautomatisierte Fahren in Zukunft spielen – insbesondere für Porsche-Kunden?

Jürgen Bortolazzi: Porsche-Kunden erwarten von einem Fahrerassistenzsystem Unterstützung, Komfort und Sicherheit auf höchstem Niveau. Hier müssen und können wir technisch führende Lösungen anbieten – ebenso beim automatisierten Fahren. Hier gilt aber auch in Zukunft die Prämisse: Ein Porsche wird in erster Linie immer ein Selbstfahrerfahrzeug bleiben.

Albrecht Böttiger: Wir sehen aber zunehmend, dass Porsche-Kunden in besonderen Situationen entlastet werden wollen – etwa im Stau oder bei der Suche nach einem Parkplatz. Denken wir etwa an die Situation in Grossstädten wie Shanghai, Peking oder Los Angeles. Dort lässt sich ein Porsche nicht sportlich-dynamisch fahren wie auf einer malerischen Landstrasse im Schwarzwald. Anstatt sich auf das „Stop and Go“ zu konzentrieren, würde vermutlich jeder gerne seine Zeit sinnvoll nutzen. Etwa mit Nebentätigkeiten, die beim aktiven Fahren nicht zulässig und nicht möglich sind.

Sie haben gerade die gesetzlichen Anforderungen angesprochen. Sind diese weltweit harmonisiert oder gibt es sehr grosse Unterschiede?

Bortolazzi: Hier sehen wir sehr grosse Unterschiede. Es gibt weltweite Regelungen, etwa die ECE-Regelungen der UN für die technischen Anforderungen an Fahrzeuge, an denen sich viele Länder orientieren. Aber wir haben es auch stark mit länderspezifischen Ausprägungen zu tun. Vor allem China emanzipiert sich zunehmend und kommt mit eigenen Zulassungs- und Gesetzesvorgaben auf den Markt.

JUPITER-Versuchsfahrzeug, 2024, Porsche AG
Mit JUPITER hat Porsche Engineering eine skalierbare ADAS-Architekturplattform aufgebaut, um neue Technologien effizienter für eine Serienentwicklung vorzubereiten. Die Plattform wird im internationalen Software-Umfeld Ständig weiterentwickelt.

Bei welchem Level des automatisierten Fahrens sind wir derzeit?

Bortolazzi: Wir sind bei Stufe 2, also noch immer beim assistierten Fahren. Hier hat der Fahrer noch die volle Verantwortung. Aber wir arbeiten derzeit intensiv an einer Weiterentwicklung von Level 2, die vielfach auch als Level 2+ bezeichnet wird. In Zukunft kann der Fahrer die Hände vom Lenkrad nehmen. Gleichzeitig muss aber vom Fahrzeug überwacht werden, dass er jederzeit übernahmefähig bleibt. Das heisst, wir müssen überwachen, dass er die Augen auf der Strasse hat, dass er das Verkehrsgeschehen weiter beobachtet und jederzeit wieder die Kontrolle übernehmen kann.

Einige OEMs befinden sich gerade an der Grenze von Level 2 zu Level 3 des automatisierten Fahrens. Wie gross ist der Sprung von Level 2 auf Level 3?

Bortolazzi: Es ist ein grösserer Sprung, weil ein Redundanzpfad im Fahrzeug implementiert werden muss. Er übernimmt – zumindest für eine gewisse Zeit – die Fahraufgabe, wenn das Hauptsystem an seine Grenzen kommt oder ein Problem auftritt. Dahinter steht ein erheblicher Aufwand, auch in den umliegenden Systemen Bremse, Lenkung und Energieversorgung.

Böttiger: Wir sind relativ schnell von Level 1 zu Level 2 gekommen, also zum Beispiel von einer einfachen Längsführung zu einer kombinierten Längs- und Querführung. Der Schritt hin zu Level 3 nimmt hingegen mehr Zeit in Anspruch – trotz der massiven Beschleunigung der Entwicklungsprozesse über eine datengetriebene Entwicklung. Das kommt vor allem von der erforderlichen Rückfallebene, die neben dem Materialaufwand in den Fahrzeugen auch einen grossen Umsetzungsaufwand in der Entwicklung mit sich bringt.

Bortolazzi: Bei Level 4 wird diese Rückfallebene noch deutlich ausgeprägter sein, sodass das Fahrzeug auch über einen längeren Zeitraum in einem Redundanzmodus bewegt werden kann. Hinzu kommt eine zusätzliche Redundanz – etwa im Antrieb, damit das Fahrzeug zum Beispiel selbstständig von der Autobahn abfahren kann.

Jürgen Bortolazzi, Leiter Driver Assistance und Automated Driving bei Porsche, Albrecht Böttiger, Leiter Advanced Driver Assistance Systems bei Porsche Engineering, l-r, 2024, Porsche AG

In den USA gibt es bereits Robotaxis ohne Fahrer. Sind die Hersteller dort den europäischen OEMs beim autonomen Fahren voraus?

Böttiger: Hier muss zwischen den Anwendungsfällen unterschieden werden. Robotaxis haben einen begrenzten Aktionsraum (Operational Design Domain) innerhalb von Städten, und die Fahrzeuge gehören Service-Providern oder Flottenbetreibern – so wie etwa heute auch schon fahrerlose Busse. Bei Fahrzeugen, die individuellen Kunden gehören und von diesen auch selbst bewegt werden, liegt der Schwerpunkt der Entwicklung auf dem entspannten Fahren auf der Autobahn oder im Stau und eben nicht auf dem fahrerlosen Fahren. Hier geht es vor allem um grössere Distanzen. Daher gibt es hier Unterschiede bei der Ausrichtung. Wir können also nicht den Schluss ziehen, die US-Hersteller seien schon weiter, weil sie keinen Fahrer mehr brauchen.

Wie sieht es bei den chinesischen Herstellern aus?

Bortolazzi: Nach unserer Beobachtung gehen chinesische Fahrzeughersteller sehr ambitioniert an das Thema Automatisierung heran. Dazu trägt sicher bei, dass es vom Staat gefördert und begünstigt wird. Wir erwarten in diesem Jahr beispielsweise eine Zulassungsgesetzgebung für Level 3. Die Ausprägung ist dort ebenfalls etwas anders: Die chinesischen Hersteller haben sehr viel Technologie an Bord, neben Sensortechnik auch Steuergeräte mit sehr hoher Rechenleistung. Es muss aber noch der Beweis angetreten werden, dass das tatsächlich zu sinnvollen Fahrzeugfunktionen führt.

Auf welche Technologien setzen Sie bei der Entwicklung hochautomatisierter Fahrfunktionen?

Bortolazzi: Unsere heutigen Level-3- und Level-4- Konzepte sehen aus Sicherheitsgründen drei unabhängige physikalische Sensierungsprinzipien vor: Radar, Lidar und Kameras. Diese sind bewährt, haben aber durchaus noch Potenzial für weitere Verbesserungen, beispielsweise durch bildgebende Radare. Das sind hochauflösende Radare, die ähnlich wie ein Lidar ein dreidimensionales Bild der Umgebung erstellen.

Böttiger: Porsche Engineering hat – auch in Verbindung mit den internationalen Standorten – tiefgehende Kompetenzen bei allen drei Sensortypen. Wir haben aber auch die für Entwicklungen bis hin zu Level 4 notwendigen Kompetenzen im Bereich der Steuergeräteplattformen, inklusive zum Beispiel der Grafikressourcen und Beschleuniger für neuronale Netze. Die Verwendung von KI wird zunehmend unverzichtbar, besonders im Bereich der Umgebungswahrnehmung und der datengetriebenen Entwicklung – darauf haben wir uns mit einem eigenen, internationalen KI-Kompetenzzentrum konsequent ausgerichtet. Und wenn wir in Richtung der erforderlichen Prozesse, Methoden und Tools schauen: Wir stellen uns aktuell dafür auf, diese entlang des gesamten V-Modells, also vom Requirements Engineering über die Softwareentwicklung bis hin zur Absicherung und Freigabe abbilden zu können. Das ist ein Thema, das wir besonders vertiefen und als essenziell für eine erfolgreiche Freigabe vor Kunde betrachten.

JUPITER-Versuchsfahrzeug, 2024, Porsche AG
Dynamische Entwicklung: Mithilfe der JUPITER-Versuchsfahrzeuge Lassen sich neue Funktionen und Algorithmen schnell erlebbar und überprüfbar machen.

Was ist das Alleinstellungsmerkmal von Porsche Engineering, wenn wir auf den Entwicklungsprozess blicken?

Böttiger: Wir sind in der Lage, für die End-to-End Entwicklung von ADAS-Funktionen neben Hardware und Realfahrzeugen insbesondere die virtuellen Tools entlang des gesamten V-Modells anzuwenden. Diese ermöglichen uns zum Beispiel, entstehende Funktionen zu simulieren und zu testen, bevor Steuergeräte als Hardware existieren. Eine weitere Stärke sind unsere weltweiten Standorte. Dort können wir zum Beispiel Hardware-in- the-Loop-Prüfstände betreiben und so rund um die Uhr den Testbetrieb, aber auch die Entwicklung fortführen. Fehler, die etwa in Shanghai entdeckt wurden, fliessen sofort in ein Update ein, das danach in Europa getestet wird. Durch diese internationale Präsenz sind wir auch in der Lage, Realfahrten in den Märkten zu unterstützen. Das heisst: Wir können die lokal am Markt erforderliche Applikation und Absicherung mit physischen Erprobungsträgern vor Ort durchführen.

Wie wird sich das Fahrzeug generell verändern, wenn das Fahren zunehmend von der Technik übernommen wird?

Bortolazzi: Das automatisierte Fahren erfordert eine höhere IT-Performance im Fahrzeug. Wir benötigen dafür Hochleistungsrechner an Bord, die Sensordaten verarbeiten und dann die Planung und Umsetzung der Route übernehmen. Es wird auch eine breitbandige Kommunikation des Fahrzeugs mit der digitalen Infrastruktur geben, in der beispielsweise elektronische Karten und Schwarmdaten abgelegt sind, also Bewegungsprofile und Verkehrsinformationen, aber auch Warnungen zu Unfällen. Zudem wird es die Vehicle-to-X-Kommunikation geben, sobald die entsprechenden Standards etabliert sind.

Böttiger: Besonders wichtig sind dafür die zahlreichen Komponenten, die integriert werden müssen. Hierfür muss Bauraum geschaffen werden, die Integration muss in der Regel ohne Einfluss auf das sichtbare Äussere des Fahrzeugs erfolgen. Möglicherweise können bestimmte Komponenten aber bewusst auch als Feature optisch hervorgehoben werden – dies ist ein Ansatz, den wir vielfach in anderen Märkten wie China beobachten: Dort werden teilweise Lidare nicht „versteckt“, sondern bewusst hervorgehoben.

JUPITER-Versuchsfahrzeug, 2024, Porsche AG

Wenn Sie es schon ansprechen: Wie lassen sich die neuen Fahrzeugfunktionen mit dem Styling verbinden?

Bortolazzi: Wir wollen Technik durchaus sichtbar machen – aber in einer Form, dass es wirklich gewollt aussieht. Die Design-Philosophie von Porsche ist sehr clean mit klaren Linien und nicht unterbrochenen Formen. Andererseits muss die optische Sensorik immer einen gewissen Sichtwinkel haben. Das sauber zu integrieren, ist tatsächlich eine grosse Herausforderung. Dabei arbeiten wir intensiv mit unseren Design- und Technikspezialisten im Karosserie- Bereich zusammen.

Was bedeutet das hochautomatisierte Fahren für den Innenraum?

Bortolazzi: Unsere Vision ist es, unseren Kunden im automatisierten Fahrmodus ein adäquates Erlebnis im Innenraum zu ermöglichen. Je nachdem, ob der Fahrer Büroarbeit, Kommunikation oder Entertainment betreiben möchte, werden die Flächen im Fahrzeug beispielsweise durch Displays oder auch Projektionen nutzbar gemacht. Wichtig ist dabei aber immer der Sicherheitsaspekt: Wir müssen in jedem Fall den Insassenschutz gewährleisten, denn beim automatisierten Fahren können Unfälle nicht zu 100 Prozent ausgeschlossen werden, beispielsweise durch das Fehlverhalten anderer Verkehrsteilnehmer. Die Passagiere müssen also auch in Relaxpositionen geschützt sein. Dafür brauchen wir intelligente Airbag- und neue Rückhaltesysteme, die in die Sitze integriert sind. Hinzu kommt eine hochpräzise Innenraum- und Insassenüberwachung, sodass das Fahrzeug genau erkennen kann, in welcher Position sich der Fahrer oder die Mitinsassen befinden und wie die optimale Auslösestrategie für diese Rückhaltemittel aussieht.

Die Entwicklung von Fahrerassistenzsystemen und automatisierten Fahrfunktionen ist sehr anspruchsvoll. Kooperiert Porsche hier mit anderen Unternehmen?

Bortolazzi: Ein wichtiger Partner ist Porsche Engineering, denn das Unternehmen hat über viele Jahre eine Reihe von grundlegenden Kompetenzen aufgebaut. Das gilt zum Beispiel für die datengetriebene Entwicklung, aber auch für das Thema Simulation. Ich möchte ausserdem die Software-Entwicklungskompetenzen nennen, die wir gemeinsam weiter auf- und ausbauen. Hinzukommen die Nearshore- und die internationalen Standorte von Porsche Engineering, die für uns sehr wichtig sind, weil wir aufgrund der unterschiedlichen Zulassungsbedingungen neue Systeme in vielen Regionen testen und absichern müssen. In all diesen Bereichen bietet uns Porsche Engineering hervorragende Unterstützung

Albrecht Böttiger, Leiter Advanced Driver Assistance Systems bei Porsche Engineering, Jürgen Bortolazzi, Leiter Driver Assistance und Automated Driving bei Porsche, l-r, 2024, Porsche AG

Ein weiterer Partner ist Mobileye. Warum haben Sie sich gerade für die Zusammenarbeit mit diesem Unternehmen entschieden?

Bortolazzi: Mobileye ist derzeit einer der Technologieführer. Das Unternehmen zeichnet sich durch eine mehr als zehnjährige intensive Entwicklungstätigkeit im Bereich der Fahrerassistenzsysteme und des automatisierten Fahrens aus. Mobileye bietet neben einem Funktionsstack auch eine System-on- Chip-Lösung – bereits in der sechsten Generation – an, in die sehr viele Erfahrungen eingeflossen sind. Hinzu kommt ein komplettes digitales Ökosystem mit einer cloudbasierten Karte und einer effizienten Kopplung des Fahrzeugs mit dieser.

Welche Meilensteine gibt es im Rahmen dieser Kooperation?

Bortolazzi: Wir haben seit einigen Jahren Kameras in den Porsche-Fahrzeugen, die auf Mobileye-Technologie basieren. Jetzt kommt die neue Steuergeräteplattform hinzu. Sie bietet eine hochleistungsfähige Schnittstelle zur elektronischen Karte und eine stark erweiterte Sensorik – insbesondere den Kameragürtel, der 360 Grad überwacht.

Zum Schluss die Frage: Fahren Sie lieber selbst oder lassen Sie sich fahren? Und worauf freuen Sie sich am meisten, wenn das Auto für Sie übernimmt?

Böttiger: Wenn ich im 911 auf der Stilfser-Joch- Strasse unterwegs bin, fehlt mir kein Level 3. Dann will ich selbst fahren. Ebenso im Schwarzwald. Sobald ich mich aber in der Stadt befinde, schalte ich schon heute den kombinierten Längs-Quer-Assistenten ein, der mir viel Entspannung und Komfort bietet. Wenn ich überhaupt nicht mehr selbst fahren müsste, würde ich im Internet surfen oder geschäftliche Dinge erledigen. Oder Sport und andere Videos schauen.

Bortolazzi: Ich würde das automatisierte Fahren bevorzugt für den Weg ins Büro nutzen – etwa, um im Stau oder im Kolonnenverkehr auf der A8 morgens meine 50 Kilometer Arbeitsweg sinnvoll nutzen zu können.

Info

Text erstmals erschienen im Porsche Engineering Magazin, Ausgabe 1/2024.

Text: Christian Buck
Fotos: Nói Crew

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