Es ist der Zauber der besonders kurzen Tage, an die sich Christian Wolfsried besonders gerne zurückerinnert. „Die wenigen Sonnenstunden im Winter am Polarkreis sind magisch“, schwärmt er von einem seiner ersten Einsätze für Porsche. Phantomgleich erheben sich Pulverschneewolken bei minus 20 Grad in Schwedisch Lappland, um sich in neuer Formation wieder niederzulassen. Etwas Neues zu entwickeln, ist 2016 auch Wolfsrieds Aufgabe bei jener Kälteerprobung des damals noch geheimen ersten Taycan an einem geheimen Ort.
Als er damals als Entwicklungsingenieur in Weissach antritt, ist er 27 Jahre jung und hat gerade seinen Master of Science in Fahrzeug- und Motorentechnik an der Universität Stuttgart absolviert. Er wird Fahrwerksapplikateur für das Torque Management/Torque Vectoring des ersten vollelektrischen Sportwagens von Porsche. Vereinfacht ausgedrückt geht es darum, die neuen Freiheitsgrade des Elektroantriebs mit je einer autarken E-Maschine pro Achse in optimale Drehmomentverteilung für alle Fahrsituationen zu übersetzen. Weil Wolfsried nicht nur theoretisch qualifiziert ist, sondern auch hart am Pedal und präzise am Volant, steuert er die gedeihenden Prototypen auf verschiedenen Testgeländen und Rennstrecken. „Einen wesentlichen Teil eines solchen Fahrzeugs gestalten und abstimmen zu dürfen, ist ein absolutes Privileg!“
Einen wesentlichen Teil eines solchen Fahrzeugs gestalten und abstimmen zu dürfen, ist ein absolutes Privileg! Christian Wolfsried
Forschen beim Fahren braucht Erfahrung. Als Teil des Einstellungsgesprächs schwingt sich damals Wolfsrieds künftiger Chef auf den Beifahrersitz. Nach einigen Runden auf dem Weissacher Prüfgelände signalisiert er: Daumen hoch. Wolfsried bringt ein hohes Mass an Fahrzeugbeherrschung mit, fuhr Kart und auch bereits Langstreckenrennen auf der Nürburgring-Nordschleife. Die Genese seiner Autobegeisterung kann auf familiäre Vorbelastung zurückgeführt werden. Christian Wolfsried ist Fahrwerker in zweiter Generation, sein Vater Stephan bei Mercedes tätig. Frühe Rennstreckenausflüge haben auch Christians zwei Jahre jüngere Schwester Lisa geprägt – ihr berufliches Metier ist das Designen der Porsche Lifestyle Driver’s Selection. Das Elternhaus steht passenderweise in Waiblingen. In jener Kreisstadt vor den Toren Stuttgarts, die unter anderem dank der Rennfahrerfamilie Winkelhock und als Heimat von Tourenwagenpilot Bernd Mayländer eine gewisse internationale Prominenz erlangte. Dort hütet Wolfsried zwei Garagenschätze: Seinen eigenen Taycan und – grösser könnte der Kontrast kaum sein – seine 1976er Corvette C3 Stingray. „Das erste Auto, das ich mir gekauft habe.“ Das war in Kalifornien, wo er ein Jahr zum Auslandsstudium verbrachte. (Ein kurzer Exkurs zum Fahrwerk der hubraumgewaltigen Jugendliebe mündet in die Zusammenfassung: „Prima geeignet zum Geradeausfahren.“)
Im Entwicklungszentrum bei Porsche lernt der neue Mitarbeiter, dass es drei interne Bezeichnungen für Fahrberechtigungen gibt: Basis, Hochleistung und Supersport – und steigt gleich bei der höchsten Stufe ein. Brems- und Ausweichmanöver sind die Basics, das Auffinden der Ideallinie, das Ausschalten der Regelsysteme, Fahren auf Eis und Schnee plus Sonderqualifikationen, wie z. B. die Nordschleife, stehen ebenso auf dem Stundenplan.
Rasch werden die Veranstalter von Porsche-Fahrevents auf Wolfsried aufmerksam. „Ich war seinerzeit aber schon bis zu 38 Wochen im Jahr unterwegs und froh um jede Minute daheim“, blickt er zurück. 2020 wechselt er in die Projektleitung als Manager Chassis Product Line Taycan. In der Projektleitung bildet nun die technische Definition der Anforderung für Fahrwerk, Fahrsysteme und einige Antriebsumfänge seinen Verantwortungsbereich. Der Taycan ist für Wolfsried eine Herzensangelegenheit. Das „immense Potenzial der E-Mobilität im Bereich Umweltschutz, emissionsfreier Fortbewegung und ebenso im sportlichen Fahren“ treibt ihn an. Letzteres allerdings beginnt er in seiner neuen Position zu vermissen.
Das Abenteuer Erprobung im hohen Norden oder auf dem anspruchsvollen Porsche-Testgelände im süditalienischen Nardò fehlen ihm. Zum Drehstuhlpiloten ist er einfach nicht geboren. „Als meine Dienstreisen weniger wurden, habe ich gleich gefragt, ob ich nun doch Instrukteur werden kann.“ Das Angebot steht. Wolfsried unterschreibt einen zweiten Arbeitsvertrag und bestellt nun nebenberuflich das weite Feld der Porsche Experience-Angebote. Porsche fördert diese besondere Symbiose aus Entwicklungsexpertise, Fahrerlebnis und Kundenkontakt. Durchschnittlich eine Handvoll Weissacher Ingenieure führt solch ein Doppelleben – zum bidirektionalen Nutzen. Einerseits erfahren Teilnehmer aus erster Hand, wie die Fahrdynamik und Handlingsqualitäten eines Modells entstanden und funktionieren. Andererseits profitiert das Unternehmen vom unmittelbaren Kundenfeedback. Lebendiger, kompetenter und authentischer kann Marktforschung kaum geraten.
Wolfsried ist ab 2020 also wieder auf Achse und am Steuer. „Ich habe sofort gemerkt, wie viel Spass mir das Vermitteln und Erklären macht“, erzählt er begeistert. „Und noch mehr Freude habe ich am Feedback, an den Reaktionen. Wenn Teilnehmer mit dem Taycan so zurechtkommen, wie wir uns das vor sieben Jahren vorgestellt haben, ist das die grösste Bestätigung unserer Arbeit.“ Sind Rennprofis wie Timo Bernhard oder Jörg Bergmeister bei Veranstaltungen an Bord, führen die Gespräche ganz tief in Abstimmungsdetails. Diesen Austausch schätzt der Ingenieur nicht nur für seine Entwicklungsaufgaben – in ihm schlummert auch der Traum, selbst einmal ein 24-Stunden-Rennen zu bestreiten.
Die Ängstlichen haben meist keine Vorstellung davon, was unsere Fahrzeuge alles können, aber ihre Scheu bröckelt, sobald ich sie auf eine Demofahrt mitnehme und Systeme erkläre. Christian Wolfsried
Man sieht dem 1,84-Meter-Mann an, dass er in seiner knappen Freizeit viel Sport treibt. Körperliche Fitness und umfangreiches Wissen verbinden sich zu ruhiger Souveränität. So dirigiert er als Instrukteur übereifrige Kandidaten ebenso wie zaghafte Teilnehmer. Die Übermotivierten fängt er ein, indem er spannend und plausibel aufzeigt, welch grossen Anteil technisches und physikalisches Verständnis am persönlichen Fortschritt haben werden – und welch geringen Mut und Talent. „Dann klappt das Herantasten an den Grenzbereich von unten. Es von oben zu versuchen, kann teuer und schmerzhaft werden.“ Verstehen, umsetzen, erleben, steigern. Bei anderen Fahrerinnen und Fahrern erkennt er Muffensausen und pariert ebenfalls mit Know-how. „Die Ängstlichen haben meist keine Vorstellung davon, was unsere Fahrzeuge alles können“, sagt Wolfsried. „Aber ihre Scheu bröckelt, sobald ich sie auf eine Demofahrt mitnehme und Systeme erkläre.“ Mit jedem Aha-Erlebnis entkrampfen die Gesichter. „Irgendwann strahlen sie alle – egal, mit welchem Modell oder welcher Antriebsart wir unterwegs sind.“
Porsche ohne die Ziffern 911 zu denken, ist selbst für den grössten Elektrofan keine Option. „Na klar ist es ein absoluter Hochgenuss, wenn ich bei den Events einen GT3 oder ein anderes supersportliches Derivat fahren kann.“ Wolfsrieds Ausseneinsätze sind in jeder Hinsicht vielfältig. Bei Produktpräsentationen hält er manchmal Vorträge im 30-Minuten-Takt, dann wieder schult er interessierte Neukunden oder ambitionierte Sportfahrer auf den Kursen der Porsche Experience Center, auf Formel-1-Rennstrecken, in der Wüste und in einsamen Wintermärchen. Bisweilen gehören auch kuriose Auftritte zum Portfolio: Etwa für das Magazin Top Gear eine Fahrt im Egger-Lohner C.2 von 1898, dem ältesten erhaltenen Fahrzeug, an dem Ferdinand Porsche mitgearbeitet hat. 14 km/h Spitze auf einem britischen Airfield. Oder der fahrdynamische Schlagabtausch mit Hollywood-Stuntfahrerin Sera Trimble im Taycan GTS auf dem Willow Springs Raceway in Kalifornien.
Eines passiert dabei immer: Sobald die Menschen gewahr werden, dass sie einen echten Entwicklungsingenieur vor sich haben, wollen sie mit ihm über mehr reden als übers Fahren. „Es sind hunderte von Fragen – zur Marke, zu unseren verschiedenen Modellen, zu meinem Job.“ Er gibt gern Auskunft. Nur wenn es um seine aktuelle Arbeit in Weissach geht, wird der mittlerweile 34-Jährige abrupt wortkarg. Die Entwicklung des künftigen Taycan bleibt ebenso undercover wie die Koordinaten jenes mystischen Orts in Lappland, wo er 2016 an der Drehmomentverteilung des Vorgängers tüftelte. Sein Terminkalender ist dicht beschrieben wie das Excelprotokoll eines Fahrwerkstests und unser Slot nun abgelaufen. Ein herzlicher Gruss zum Abschied – und Christian Wolfsried kehrt zurück in die Zukunft, die auf seinem Schreibtisch liegt.