Der Ursprung: Warum Porsche 1998 ein SUV ankündigte

Mitte der 90er-Jahre hatte Porsche eine weitreichende Entscheidung zu treffen, um den wirtschaftlichen Erfolg des Sportwagenherstellers nachhaltig zu sichern.

Eine vom Ressort des damaligen Vertriebsvorstands Hans Riedel beauftragte Analyse hatte ergeben, dass allein der legendäre 911 und das neue Mittelmotormodell Boxster den Hersteller nicht in eine gesicherte Zukunft führen würden. „Man hat gemerkt, dass man mit den Sportwagen allein im Markt an Grenzen stösst“, erinnert sich Anton Hunger, Kommunikationschef des früheren Vorstandsvorsitzenden Wendelin Wiedeking. „Der Vertrieb hatte das mithilfe der Marktforschung klar belegt. Auf lange Sicht wäre Porsche wieder auf einem absteigenden Ast gelandet.“

Cayenne, 2022, Porsche AG
Der Porsche Cayenne ist ein Alleskönner.

Das galt es zu vermeiden. Schliesslich hatte Porsche gerade erst in den Abgrund geblickt: Für das Jahr 1992 musste ein Verlust von 240 Millionen D-Mark bilanziert werden. Wiedeking, seit September 1992 zunächst Sprecher des Vorstands, ab August 1993 dann dessen Vorsitzender, reagierte schnell: Er optimierte die Produktion, strich ganze Hierarchie-Ebenen und führte den Boxster ein. Das Unternehmen schaffte die Wende, und peilte weiteres Wachstum jenseits des klassischen Sportwagen-Segments an.

Kooperationspartner: Auf Mercedes folgte VW

Für den „dritten Porsche“ wurden fünf alternative Fahrzeugkonzepte geprüft, ernsthaft erwogen wurden am Ende aber nur ein Luxus-Van und ein sportliches Premium-SUV. Gegen die Van-Idee gab es ein Veto aus den USA, damals Porsches grösster Markt. „Vans waren zu jener Zeit in Amerika vor allem bei einkommensschwachen Familien beliebt“, erzählt Anton Hunger. „Was aber schon damals quer durch alle Einkommensschichten gut funktionierte, waren grosse Geländewagen.“ Für die Entwicklung eines solch komplett neuen Modells suchte Porsche einen Partner – und fand ihn zunächst in der Nachbarschaft: Mercedes-Benz sollte 1997 mit der M-Klasse auf den Markt kommen und war nicht abgeneigt, dass Porsche mit einsteigt und dabei eigene Akzente setzt.

Cayenne, 2022, Porsche AG
Ein Porsche für die ganze Familie: die erste Generation des Cayenne.

„In dieser Phase haben wir uns das Porsche SUV als High-Performance-Ableger des Mercedes vorgestellt“ sagt Klaus-Gerhard Wolpert, von 1998 bis 2010 der erste Baureihenleiter des Cayenne. „Mit eigener Aussenhaut, viel Technik der M-Klasse, aber Motoren und Fahrwerk-Komponenten von uns.“ Die im Sommer 1996 beschlossene Porsche/Mercedes-Kooperation lief gut voran, scheiterte aber schon Ende desselben Jahres an unterschiedlichen Vorstellungen hinsichtlich der wirtschaftlichen Beziehung beider Unternehmen. Ein neuer Partner war gefragt, den man in Wolfsburg fand: Obwohl Volkswagen und Porsche zu der Zeit noch nicht in einem Konzern verbunden waren, erkannte der damalige VW-Vorstandsvorsitzende Ferdinand Piëch, Enkel von Unternehmensgründer Ferdinand Porsche, das Potenzial einer Zusammenarbeit. „Porsche hat das Konzept bei VW vorgestellt, und Ferdinand Piëch hat entschieden: So ein Auto können wir auch brauchen“, erinnert sich Wolpert.

Im Juni 1997 fiel die Entscheidung, Cayenne und Touareg im Rahmen des intern „Colorado“ getauften Projekts gemeinsam auf der Porsche-Plattform zu konstruieren. Schon ein knappes Jahr später wurde diese Entscheidung öffentlich gemacht. Geheim blieb zunächst nur der Name Cayenne. Die Entwicklungsführerschaft lag bei Porsche, VW sollte die Produktion des neuen SUV übernehmen. Es gab sichtbare Gleichteile wie etwa die Türen, und auch die Innenräume ähnelten sich. Doch bei anderen wichtigen Komponenten gingen die Partner getrennte Wege: Zunächst kam kein Porsche-Motor im VW-Schwestermodell zum Einsatz und umgekehrt. Die Fahrwerkabstimmung wurde ebenfalls getrennt organisiert.

Entwicklungsziel: Neue Massstäbe auf und abseits der Strasse

Eine entscheidende Frage war: Wie muss ein Auto konzipiert sein, das die bekannte Sportlichkeit von Porsche auf der Strasse glaubhaft verkörpert und gleichzeitig über Stock und Stein mit den besten Geländewagen der Welt mithalten kann? Der Cayenne sollte sowohl auf als auch abseits befestigter Strassen Massstäbe setzen. „Für uns war klar: Wenn wir einen Geländewagen bringen, dann muss er auch im Gelände uneingeschränkt überzeugen“, sagt Anton Hunger. Oder wie Felix Bräutigam, damals Leiter der Porsche Marketing-Kommunikation, es ausdrückte: „Der Cayenne steht für ein sportliches Fahrerlebnis. Der Untergrund dafür ist ihm egal.“

Cayenne-Prototyp, 2022, Porsche AG
Ein Prototyp auf Testfahrt: Der Cayenne sollte sowohl auf als auch abseits befestigter Strassen Massstäbe setzen.

Um seinen Ingenieuren ein Gefühl für die Anforderungen an die Entwicklung eines Sport Utility Vehicle zu vermitteln, ergriff Baureihenleiter Klaus-Gerhard Wolpert eine ungewöhnliche Massnahme: „Ich habe alle meine Bereichsleiter angewiesen, ihre Porsche Dienstwagen abzugeben. Wir haben stattdessen verschiedene SUV angeschafft, zum Beispiel BMW X5, Ford Explorer, Jeep Grand Cherokee und Mercedes M-Klasse. Die Kollegen sollten diese Modelle im Alltag fahren, und alle vier Wochen haben wir durchgetauscht.“ Anfangs murrte Wolperts Mannschaft über den angeordneten Verzicht auf ihre geliebten Elfer, aber die tägliche Konfrontation mit bis dato bei Porsche weniger beachteten Themen wie Stauraum, Ladekantenhöhe, umklappbaren Rücksitzen, Wat-Tiefe und Böschungswinkel förderte im Team ein Bewusstsein für die Stärken und Schwächen der Wettbewerber. „Das war einer der Schlüssel zum Erfolg“, ist Wolpert heute überzeugt.

Weltpremiere 2002 in Paris „von historischer Bedeutung“

Im September 2002, gut vier Jahre nachdem die Entscheidung für den Cayenne veröffentlicht wurde, feierte Porsches erster Fünfsitzer Weltpremiere auf dem Pariser Autosalon. „Porsche steht in der Tat vor seiner vielleicht grössten Herausforderung“, sagte Wendelin Wiedeking bei der Vorabend-Veranstaltung im Innenhof des Hotel d’Evreux. „Dieser Tag, daran gibt es für mich keinen Zweifel, wird für das Unternehmen von historischer Bedeutung sein.“ Der Vorstandsvorsitzende, der noch bis 2009 amtierte, sollte Recht behalten. Mit dem Cayenne erreichte der Sportwagenhersteller neue Kunden und neue Märkte, wenngleich es bei einigen Fans der Marke starke Vorbehalte gab.

„Im eigenen Haus war der Cayenne schnell akzeptiert. Aber die Porsche Clubs waren weniger begeistert. Da gab es teils heftigen Gegenwind“, erinnert sich der ehemalige Pressesprecher Anton Hunger. Doch die Zahlen gaben Porsche Recht. Denn in einem Punkt hatten sich Wiedeking und das gesamte Führungsteam geirrt: Der Porsche Cayenne wurde nicht nur, wie ursprünglich geplant, 25.000-mal pro Jahr an Kunden ausgeliefert. Schon von der ersten Generation, intern E1 genannt, verkaufte Porsche in acht Modelljahren 276.652 Exemplare, mithin knapp 35.000 Einheiten pro Jahr. Inzwischen läuft die dritte Generation (E3) vom Band, und der einmillionste Cayenne ist bereits Geschichte. Zuletzt wurden im Jahr 2021 weit über 80.000 Einheiten ausgeliefert.

Für Porsche hat der Cayenne die wirtschaftliche Grundlage für nachhaltigen Erfolg geschaffen, ohne dabei die sportlichen Werte der Sportwagenmarke zu verspielen: „Mit dem Cayenne ist es uns erstmals gelungen, den Mythos Porsche erfolgreich auf ein völlig neues Marktsegment zu übertragen“, so Oliver Blume, Vorstandsvorsitzender der Porsche AG, anlässlich der Weltpremiere der dritten Generation 2017 auf dem Dach des Porsche Museums. „Unser Sportwagen im SUV-Segment hat sich über die vergangenen zwei Jahrzehnte hinweg als Bestseller und Wachstumsmotor erwiesen. Mehr noch: Der Cayenne hat Porsche die Türen in viele neue Märkte geöffnet und ganz wesentlich zur Internationalisierung unseres Vertriebsnetzes beigetragen. Und zu einer erheblichen Verbreiterung unserer Kundenbasis.“

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