„Der ‚Carbon Free Boston'-Report“, sagt Peter Fox-Penner und deutet auf ein dickes Heft vor ihm, „ist die Grundlage für den nächsten Klimaplan dieser Stadt. Er wird dafür sorgen, dass Boston bis 2050 klimaneutral ist.“ Knappe, wohl gewählte Pause. „Aber ich glaube, wir werden das schon früher erreichen.“
Fox-Penner, 64 Jahre alt, muss es wissen. Geht es um klimaneutrale Lösungen für Boston, ist keine Institution der Stadt so gut vernetzt wie die Boston University und der Direktor des Instituts für Nachhaltige Energie: Fox-Penner ist Mitherausgeber des in diesem Jahr veröffentlichten Reports „Carbon Free Boston“, einer Studie, die ihn mit 120 Experten aus allen gesellschaftlichen Bereichen zusammengebracht hat – von Religionsvertretern über Community- und Umweltaktivisten, Immobilienentwicklern und Universitätspräsidenten bis hin zu Gesundheits-, Strom-, Gas- und Wärmeversorgern. Sogar der Gouverneur von Massachusetts, Charlie Baker, machte mit. „Wenn man in Boston etwas erreichen will“, sagt Fox-Penner, „muss man alle wichtigen Stakeholder einbinden.“
Die Stadt hat sich gemeinsam auf den Weg gemacht. Vor den Bostonians liegen gewaltige Aufgaben. Um eine höhere Lebensqualität für alle zu schaffen – bessere Luft, sichere Strassen, steigende Produktivität –, soll die gewachsene Infrastruktur der jahrhundertealten Ostküstenmetropole in den kommenden Jahren so umgestaltet werden, dass in der Stadt weniger Kohlendioxid produziert als absorbiert wird. Vier zentrale Bereiche stehen bei Bostons Bemühungen im Fokus: Gebäude, Energie, Müll und Verkehr.
Bis 2050 klimaneutral? Das klingt machbar. Aber der Blick auf die reinen Zahlen verrät die ungeheuren Dimensionen. Beispiel Verkehr. Knapp 700.000 Einwohner hat Boston, gut viereinhalb Millionen Menschen leben im Einzugsgebiet der Metropole. Wochentags erhöht sich der Verkehr im Zentrum durch die vielen Pendler dramatisch. Dann bewegen sich bis zu eine Million Menschen in und durch die Stadt, die meisten in Autos. Nur jeder dritte Pendler nutzt heute öffentliche Verkehrsmittel.
Das führt in dem verworrenen, teilweise unter der Erdoberfläche verlaufenden Strassennetz zu massiven Staus. Laut „Global Traffic Scorecard“ des US-amerikanischen Mobilitätsanalyse-Unternehmens Inrix so sehr wie in keiner anderen Stadt der USA. Jeder Autofahrer Bostons verliert im Schnitt 164 Stunden jährlich in stockendem Verkehr – deutlich mehr als etwa in New York (133 Stunden) oder Los Angeles (128 Stunden).
Der tägliche Individualverkehr ist der grösste Emissionstreiber in Boston. Knapp 70 Prozent aller Fahrten finden mit privaten Fahrzeugen statt. Oft sitzt nur eine Person im Auto, das überwiegend mit fossilen Brennstoffen betrieben wird. Zudem prognostizieren Experten für die kommenden Jahrzehnte einen Anstieg der Bevölkerung im Grossraum Boston, weil die Stadt wirtschaftlich wachsen wird. Die Anzahl der Fahrzeuge auf Bostons Strassen könnte bis ins Jahr 2050 von aktuell rund 450.000 auf etwa 460.000 ansteigen. Welche Möglichkeiten hat eine Stadt vor diesem Hintergrund, das Ziel der Klimaneutralität einzuhalten?
„Wir schauen, was in 15 bis 20 Jahren richtig sein wird.“ Kris Carter
Darauf lautet die Antwort vieler Grossstädte dieser Welt: umsteigen! Auf öffentlichen Personennahverkehr, Carsharing, auf zwei Räder. Überschaubare Wegstrecken gleich ganz zu Fuss erledigen. Jedenfalls weg vom eigenen Auto. Erreicht werden soll das einerseits über Anreize wie vergünstigte Bustickets, Ausbau der Radwege oder die Bereitstellung von Elektrorollern. Andererseits durch innerstädtische Mautgebühren für Pkw, wie sie etwa in London mit der „Congestion Charge“ seit 2003 schon besteht. Auch in Boston wird in diese Richtungen gedacht, ohne den Individualverkehr prinzipiell aus der Innenstadt zu verbannen. Um das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 zu erreichen, müssten private Pkw-Fahrten zwar reduziert werden. Eine generelle Absage an das Auto ist jedoch nicht vorgesehen. Stattdessen sollen in Zukunft ausschliesslich mit Ökostrom betriebene Fahrzeuge in der Hafenstadt verkehren.
Damit richtet Boston sich deutlich anders aus als beispielsweise Oslo, in diesem Jahr zu „Europas grüner Hauptstadt“ gekürt. Ursprünglich hatte die dortige Stadtregierung für 2019 geplant, Oslo autofrei zu machen. Wegen erheblicher Proteste von Bewohnern und Unternehmern wurden die Pläne jedoch auf Eis gelegt. Erst einmal. Gleichwohl liess die Stadtverwaltung Parkplätze entfernen, Strassen für Fahrzeuge temporär oder gleich ganz sperren.
In Boston wird der Umstieg auf eine andere Verkehrskultur mit Schwerpunkt Elektromobilität derweil durch technologische Innovationen vorbereitet, wie sie etwa im aktuellen Projekt „Street Labs“ getestet werden: smarte Strassensysteme, in denen mithilfe von Kameras und Sensoren Geschwindigkeit geregelt und so flüssigeres Fahren möglich wird.
Verantwortlich dafür ist Kris Carter. Der 38-jährige Beamte leitet gemeinsam mit einem Kollegen „New Urban Mechanics“, eine in dieser Form weltweit einzigartige Stabsstelle, die direkt dem Bürgermeister Martin Walsh unterstellt ist. Die Priorität des Themas Nachhaltigkeit lässt sich auch daran ablesen, dass Carters Büro direkt neben dem des Bürgermeisters zu finden ist. Carter kümmert sich um die zentralen Themen des städtischen Zusammenlebens in der Zukunft: Wohnraum, Gesundheit, Verkehr. „Es geht uns nicht so sehr darum, was wir heute verändern können“, erklärt Carter. „Wir schauen eher, was in 15 bis 20 Jahren richtig sein wird.“
Bis dahin könnte autonomes Fahren auf Level fünf, also vollautomatisiert und ohne jeglichen Eingriff eines Passagiers, sehr nahe rücken. Wäre es da für Boston nicht am einfachsten, heute schon anzukündigen, auf autonom fahrende Automobile umzusteigen? Die Vision eines Verkehrsstroms, der sich quasi von alleine regelt, als klares Ziel auszugeben? Vor drei Jahren bereits hat die Stadt Boston eine erste Studie für autonomes Fahren vorgelegt, erarbeitet mit der Unternehmensberatung Boston Consulting Group und dem Weltwirtschaftsforum. „Dabei kam unter anderem heraus, dass sich die Menschen selbstfahrende Fahrzeuge wünschen, die geteilt werden können und die elektrisch betrieben werden, um so unsere Klimabilanz zu verbessern“, sagt Kris Carter, der nicht daran glaubt, dass der Individualverkehr verschwinden wird. „Die Studie hat gezeigt, dass es eine Gruppe von Menschen gibt, die immer selbst fahren will.“
„Die Leute werden nicht wieder zu ihren alten Fahrzeugen zurückkehren, wenn sie einmal Elektro gefahren sind.“ Peter Fox-Penner
Zudem müssen die Verbesserungen durch autonomes Fahren zum jetzigen Zeitpunkt als spekulativ betrachtet werden, heisst es im „Carbon Free Boston“-Report. Bis heute haben weltweit in einigen Städten zwar Versuche stattgefunden, allerdings nur in ausgewählten Arealen. Daraus Prognosen für autonomes Fahren im gesamten Stadtgebiet abzuleiten, erachtet man in Boston dieser Tage für nicht zielführend.
Derweil ist Peter Fox-Penner seiner Zeit voraus. Der Universitätsprofessor besitzt bereits einen vollelektrischen VW Golf. „Ich habe den Wagen vor eineinhalb Jahren gekauft, er fährt mit einer Ladung 200 Kilometer weit“, erzählt Fox-Penner. „Es ist eine Freude, ihn zu fahren.“ Auf dem Weg hin zur Klimaneutralität im Jahr 2050 wird sein Beispiel in Boston Schule gemacht haben. „Die Leute werden nicht wieder zu ihren alten Fahrzeugen zurückkehren, wenn sie einmal Elektro gefahren sind.“ Warum? „Ganz einfach. Elektroautos sind so viel besser.“
Info
Text erstmalig erschienen im Porsche-Kundenmagazin Christophorus, Nr. 392.
Dieser Beitrag wurde vor dem Start des Porsche Newsroom Schweiz in Deutschland erstellt. Die genannten Verbrauchs- und Emissionsangaben richten sich daher nach dem Prüfverfahren NEFZ und wurden unverändert übernommen. Alle in der Schweiz gültigen Angaben nach WLTP-Messzyklus sind unter www.porsche.ch verfügbar.