Daten sind das neue Gold: Dieser vielzitierte Satz trifft für die Fahrzeugentwicklung ganz besonders zu. Denn Datenanalysen und die darauf basierende datengetriebene Entwicklung gewinnen hier immer mehr an Bedeutung. Kein Wunder, erhalten die Ingenieurinnen und Ingenieure auf diese Weise schneller Einblicke in die aktuelle Performance neuer Fahrzeugfunktionen – und können so bereits in frühen Phasen Rückschlüsse ziehen und erkennen, was funktioniert und wo es noch Probleme gibt. „Mithilfe der datengetriebenen Entwicklung sind wir heute in der Lage, neue Funktionen deutlich schneller zu optimieren und zur Marktreife zu bringen“, berichtet Leon David Lange, Projektleiter ADAS-Datenanalyse bei Porsche Engineering. „Besonders komplexe Fahrzeugfeatures liessen sich ohne diese Beschleunigung überhaupt nicht in vertretbarer Zeit realisieren.“
Doch die schnellen Feedbackschleifen aus der Entwicklung oder der Erprobung setzen eine möglichst durchgängige Tool-Kette voraus. „Die Vorteile der datengetriebenen Entwicklung sind in vollem Umfang nutzbar, wenn man entlang der gesamten Entwicklungskette über die nötigen Werkzeuge verfügt“, erklärt Dr. Hagen Stübing, Leiter der Fachdisziplin Software Engineering bei Porsche Engineering. „Daher haben mehrere Fachdisziplinen von Porsche Engineering ein durchgängiges modulares Set an Tools für unterschiedliche Entwicklungsphasen entwickelt, welche sowohl als einzelnes Tool als auch als gesamte Tool-Palette den Entwicklungsprozess optimieren – von der Aufzeichnung und Auswertung der Daten im Fahrzeug über ihren Transport ins Backend, die Speicherung und Analyse in der Cloud bis hin zur Übertragung neuer Software-Stände zurück ins Fahrzeug.“
„Mithilfe der datengetriebenen Entwicklung sind wir heute in der Lage, neue Funktionen schneller zu optimieren und zur Marktreife zu bringen.“ Leon David Lange, Projektleiter ADAS-Datenanalyse bei Porsche Engineering
Die Tool-Kette ist modular aufgebaut und kann dadurch flexibel an die individuellen Bedürfnisse jedes Industriekunden angepasst werden. „Manche Kunden brauchen die Werkzeuge nur während der Entwicklung, andere wollen sie Ende-zu-Ende nutzen – also über den gesamten Lebenszyklus eines neuen Fahrzeugs“, so Dr. Heiko Helble, Projektleiter Datensammler bei Porsche Engineering. „Dank der Modularisierung können wir uns auf jeden Wunsch einstellen.“ Porsche Engineering hat die Tool-Kette in Eigenleistung entwickelt, die von den ersten Entwicklungsschritten über den Dauerlauf bis hin zur Serie zum Einsatz kommt. Dadurch steigt die Schnelligkeit, mit der auf Änderungen auf dem Markt reagiert werden kann – mit den passgenauen Tools zur richtigen Zeit.
Portfolio aus sechs Tools
Derzeit umfasst das Portfolio von Porsche Engineering sechs Tools für die datengetriebene Entwicklung: Für die automatisierte Messdatenauswertung direkt im Fahrzeug wurde das Automatisierte Messdatenauswertetool (AMDA V2) entwickelt. Es kommt in den frühen Entwicklungsphasen zum Einsatz. In Seriennähe wird dann der Porsche Engineering Data Gatherer (PEDG) als Datensammler im Fahrzeug eingesetzt. Bei der Datenbereitstellung und Validierung von Erprobungsfahrten unterstützt die ComBoxApp, die auf einem gewöhnlichen Android-Smartphone läuft. Auf den Einsatz in der Fahrzeugentwicklung spezialisiert ist die LLM-Service-Plattform SALLY. Sie unterstützt die Entwicklerinnen und Entwickler als digitaler Assistent. Die Verwaltung von Geräten wie etwa der Messtechnik via 5G aus der Cloud übernimmt die PE IoT Edge Platform (PEvIoT). Die Integration läuft auf einem PC im Fahrzeug. Die PEvIoT-Plattform überträgt alle aufgezeichneten Daten in einen „Data Lake“ in der Cloud: den Porsche Engineering Data Hub (PEDH). „In unsere Tools sind die Erfahrungen aus vielen Jahren Fahrzeugentwicklung bei Porsche Engineering eingeflossen“, sagt Daniel Schumacher, Spezialist Cloud- Architektur bei Porsche Engineering. „Wir können die Tools weiterentwickeln, anpassen und als Entwicklungsdienstleister auch in die Anwendung bringen, denn sie wurden komplett inhouse entwickelt.“ Porsche Engineering nutzt die Tool-Kette in Entwicklungsprojekten, bietet sie Industriekunden aber auch als „Software as a Product“ über eine Lizensierung an. Alle Tools können modular gebucht werden, allerdings ist der Nutzen im Gesamtpaket besonders hoch.
„Die Vorteile der datengetriebenen Entwicklung sind in vollem Umfang nutzbar, wenn man entlang der gesamten Entwicklungskette über die nötigen Werkzeuge verfügt.“ Dr. Hagen Stübing, Leiter Fachdisziplin Software Engineering bei Porsche Engineering
Automatisierte Messdatenauswertung – AMDA V2
AMDA V2 (Automatisiertes Messdatenauswertetool Version 2) ist eine Software für die automatisierte Messdatenauswertung direkt am Entstehungsort. Sie hat Zugriff auf die Datenbusse des Versuchsfahrzeugs und kann dadurch live den gesamten Datenverkehr mitlesen und relevante Signale sofort während der Fahrt analysieren. Auf diese Weise ist AMDA V2 in der Lage, bestimmte Fahrszenarien zu erkennen, beispielsweise das Einscheren eines vorausfahrenden Fahrzeugs. Zugleich zeichnet AMDA V2 die Reaktion der Fahrzeugfunktionen auf – in diesem Beispiel also die Antwort des Adaptive- Cruise- Control- Längsreglers auf den einscherenden Verkehrsteilnehmer. Mithilfe von Key Performance Indicators (KPIs) auf Basis von Fahrzeugdaten bewertet das Tool dann objektiv, ob das System die Situation gut oder schlecht gemeistert hat. Durch die Analyse direkt im Versuchsfahrzeug mithilfe von AMDA V2 müssen keine grossen Datenmengen zur Auswertung in die Cloud übertragenv werden. Das führt nicht nur zu einer Entlastung in der Entwicklung, sondern trägt auch zu effizienteren Testabläufen sowie zur Erhöhung der objektiven Bewertbarkeit einer Funktion bei.
Datensammler in Serienfahrzeugen – PEDG
Der Porsche Engineering Data Gatherer (PEDG) ist ein Datensammler, der für den Serieneinsatz konzipiert ist. Im Gegensatz zu AMDA V2 läuft das Tool nicht auf einer separaten Hardware (PC im Fahrzeug oder Notebook), sondern kann in ein vorhandenes Serien-Steuergerät eingebettet werden. Darum kommt der PEDG erst in späteren Entwicklungsphasen und nach dem Start der Serienfertigung zum Einsatz. Der PEDG lässt sich aus der Ferne per Mobilfunk (OvertheAir) so einstellen, dass er bestimmte Vorgänge automatisch erkennt – zum Beispiel das Einschalten eines Fahrzeugsystems oder die Notfallhandhabung einer Situation. In diesem Fall zeichnet das Tool automatisch alle relevanten Signale auf und spielt sie selbstständig zurück in ein Backend, wo dann weitere Analysen durchgeführt werden können. Der grosse Vorteil des PEDG besteht darin, dass man in Serienflotten Daten aufzeichnen kann, ohne dass dafür ein physikalischer Zugriff auf die Fahrzeuge erforderlich ist, etwa durch das Aufsuchen einer Werkstatt.
LLM-Service-Plattform für die Entwicklung - SALLY
SALLY ist eine Plattform in der Cloud, auf die Software-Entwicklerinnen und -Entwickler über ihren Computer Zugriff haben und die als digitaler Assistent bei der täglichen Arbeit unterstützt. Über einen Prompt in natürlicher Sprache können die Nutzerinnen und Nutzer zum Beispiel Informationen über den aktuellen Stand von Tickets zu bestimmten Ereignissen abrufen und sich bei ihrer Arbeit an neuen Software- Funktionen unterstützen lassen. Im Gegensatz zu allgemein bekannten LLM-Plattformen (Large Language Model) wie ChatGPT oder Deep Seek hat SALLY Zugang zu Domänenwissen aus der Entwicklung von fortschrittlichen Fahrerassistenzsystemen (ADAS), weiteres Domänenwissen ist andockbar. Dadurch kann SALLY beispielsweise bei der Entwicklung von ACC-Funktionen genutzt werden – einerseits, um effizient Wissen aus den Anforderungen abzufragen, andererseits, um direkt bei der Software- Entwicklung zu unterstützen. So kann das Tool beispielsweise Code-Schnipsel erstellen, Code korrigieren und Dokumentationen aus bestehendem Code erstellen.
Dadurch lassen sich neue Software-Funktionen schneller erstellen, analysieren und testen. Insbesondere die Zeit für die Fehlerbehebung und das anschliessende Aufspielen auf Versuchsfahrzeuge werden deutlich reduziert. Das macht SALLY zu einem „Entwicklungsbeschleuniger“ im Bereich neuer ADAS- Funktionen. Die SALLY- Plattform hat ein Application Programming Interface (API), durch die weitere KI- Applikationen aufgebaut und bestehende Services integriert werden können.
Digitaler Assistent für Versuchsfahrten – COMBOX-APP
Die ComBox-App ist eine Software, die auf einem Smartphone läuft und als digitaler Assistent für die Versuchsfahrerin oder den Versuchsfahrer dient. Sie greift während der Versuchsfahrten automatisch oder nach einem manuellen Trigger auf die Fahrzeugdaten vom Datenlogger zu, die danach über das Mobilfunknetz in die Cloud übertragen werden – teilweise mithilfe von KI vorverarbeitet. Derzeit bietet die ComBox-App sechs unterschiedliche Modi: Basisdienst, Verkehrszeichenerkennung, Szenenerkennung, Akustische Beanstandungen, Infotainment-Aufzeichnung sowie Automatisierte Schicht- und Erprobungsberichte.
„In unsere Tools sind die Erfahrungen aus vielen Jahren Fahrzeugentwicklung bei Porsche Engineering eingeflossen.“ Daniel Schumacher, Spezialist Cloud-Architektur bei Porsche Engineering
Data Lake in der Cloud – PEDH
Der Porsche Engineering Data Hub (PEDH) ist eine weitere Cloud-Plattform von Porsche Engineering, die alle aufgezeichneten Daten aus den Versuchsfahrzeugen in einem „Data Lake“ aufnehmen und in einer Ordnerstruktur ablegen kann – vergleichbar mit dem Datei- Explorer auf einem PC, nur skalierbar auf eine gesamte Flotte von Entwicklungsfahrzeugen.
Entwickler im Porsche-Netzwerk können darauf zugreifen, wobei eine Indexierung der Metadaten zu den hochgeladenen Dateien das effiziente Filtern und Suchen erlaubt. Man erkennt dadurch unter anderem sofort, welches Fahrzeug die Daten hochgeladen hat, welche Tools für ihre Aufzeichnung genutzt worden sind und welche Software-Version auf den Steuergeräten aufgespielt war.
Verbindung mit der Cloud – PEVIOT
Die PE Vehicle IoT Edge Platform (PEvIoT) verbindet Geräte mit der Cloud, zum Beispiel die Messtechnik des Fahrzeugs oder die PCs von HiL-Prüfständen (Hardware-in-the-Loop). Sie läuft auf einem PC im Fahrzeug, der (etwa über 5G) mit dem Internet verbunden ist. Über PEvIoT können nicht nur Messwerte übertragen werden – es ist auch möglich, andere Tools wie AMDA V2 einfach und vollautomatisiert auf das Fahrzeug aufzuspielen oder zu aktualisieren. Für deren Versand kommen Docker- Container zum Einsatz, die Software gemeinsam mit allen Abhängigkeiten wie Betriebssystem- Bibliotheken, Software- Frameworks oder Datenbanken verpacken. Dadurch ist eine problemlose Ausführung in den unterschiedlichsten Computer- Umgebungen sichergestellt. PEvIoT ermöglicht dadurch die Nutzung verschiedener Tools im Fahrzeug und reduziert die Zeit für deren Inbetriebnahme massiv. Gleichzeitig lassen sich Updates flexibel verteilen und so ganze Fahrzeugflotten aus der Ferne komfortabel verwalten.
Info
Text erstmals erschienen im Porsche Engineering Magazin, Ausgabe 1/2025.
Text: Christian Buck
Illustrationen: Andrew Timmins
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