Fahrsimulationen: Versuchsfahrt ohne Versuchsfahrzeug

Porsche Engineering baut sein Engagement im Bereich Fahrsimulatoren aus. Ziel ist es, frühzeitig ein subjektives Feedback neuer digitaler Funktionen einzuholen. Auch die Porsche AG erweitert derzeit ihre Infrastruktur und plant ein Virtual Validation Center in Weissach.

Fahrzeuge und ihre Regelsysteme werden immer komplexer, gleichzeitig nimmt die Zahl der zur Verfügung stehenden Prototypenfahrzeuge weiter ab. Die Entwicklerinnen und Entwickler setzen darum zunehmend auf virtuelle und hybride Tests unter Verwendung fortschrittlicher Simulationsmethoden wie Software in the Loop, Model in the Loop, Hardware in the Loop und anderer Methoden, mit dem Ziel, Testaktivitäten möglichst früh im Entwicklungsprozess anzugehen. Diese Simulationen sind längst zum Standard für die objektive Bewertung von Fahrzeugkomponenten, mechanischen Systemen und Fahrfunktionen geworden. Sie erlauben jedoch keine menschliche Interaktion oder subjektive Bewertung. Hier kommen Versuche mit Fahrsimulatoren ins Spiel – sie beziehen auch die Perspektive des Menschen mit ein.

Ingo Krems, Leiterin Fachdisziplin Simulation bei Porsche Engineering, Porsche Engineering, 2024, Porsche AG
Tille Karoline Rupp, Leiterin Fachdisziplin Simulation bei Porsche Engineering

„Durch die Kombination von Fahrsimulatoren mit HiL-Systemen sowie die konsequente Nutzung und stetige Erweiterung des eigens entwickelten Simulations-Frameworks auf dem Fahrsimulator können wir früh im Entwicklungsprozess ein subjektives Feedback neuer digitaler Funktionen einholen – lange bevor erste Prototypen dafür zur Verfügung stehen“, erklärt Tille Karoline Rupp, Leiterin Fachdisziplin Simulation bei Porsche Engineering. „Durch dieses, Frontloading‘ sind die Funktionen viel ausgereifter, wenn sie später erstmals in einem Versuchsfahrzeug zum Einsatz kommen.“ Zudem sind Versuche mit Fahrsimulatoren eine kostengünstige Ergänzung von Realerprobungen. Sie ermöglichen nicht nur, riskante Tests in einer sicheren Umgebung zu absolvieren, sondern auch Tests unter stark variierenden Wetterbedingungen auf virtuellen und somit ideal an das jeweilige Problem angepassten Teststrecken umzusetzen.

Weiterer Vorteil: Die Testsituationen sind exakt reproduzierbar. So lässt sich beispielsweise der Umgebungsverkehr genau vorgeben und beliebig wiederholen, was in der Realität kaum möglich ist. In einem aktuellen Projekt nutzen die Entwicklerinnen und Entwickler Fahrsimulatoren für die Applikation der Parameter der Bremsregelsystem-Software an spezifische Fahrzeugtypen.

Ingo Krems, Leiter Fachdisziplin Fahrdynamik & Absicherung bei Porsche Engineering, Porsche Engineering, 2024, Porsche AG
Martin Reichenecker, Leiter Fachdisziplin Fahrdynamik & Absicherung bei Porsche Engineering

Das Porsche Stability Management (PSM), auch Elektronisches Stabilitätsprogramm (ESP) genannt, besteht aus zwei wesentlichen Bausteinen: dem Antiblockiersystem (ABS) und dem Fahrzeugregler (FZR). Das ABS kann beim Verzögern durch die Fahrerin oder den Fahrer den hydraulischen Druck auf die einzelnen Radbremsen dosieren. Droht in einer Kurve Instabilität, werden einzelne Räder abgebremst, sodass ein Schleudern verhindert wird. „Je nach Feuchtigkeit und Temperatur sowie Fahrbahn und Bremsbelagzustand verhalten sich die Bremsen völlig unterschiedlich“, sagt Martin Reichenecker, Leiter Fachdisziplin Fahrdynamik & Absicherung bei Porsche Engineering. „Das ESP muss diese Schwankungen ausgleichen – ebenso wie den Unterschied zwischen Sommer- und Winterreifen.“ Die Software für das ESP-Steuergerät stammt von Tier-1-Zulieferern und wird mit einem Satz an Standard-Parametern ausgeliefert.

Diese Parameter müssen von den Entwicklerinnen und Entwicklern im Rahmen der Applikation optimal auf die verschiedenen Fahrzeugderivate abgestimmt werden. Die Herausforderung: In frühen Phasen des Entwicklungsprozesses stehen dafür noch keine Versuchsfahrzeuge mit ausreichendem Reifegrad der Komponenten zur Verfügung. Für die subjektive Beurteilung der ESP-Funktionen will Porsche Engineering deshalb verstärkt Fahrsimulatoren einsetzen. „Hierfür verwenden wir eine umfassende Integration von Fahrzeug- und Streckenmodellierung, einem realen Steuergerät samt zugehöriger Software sowie einer Benutzerschnittstelle, die mittels Lenkrad und Pedalerie eine direkte Interaktion der Fahrerin oder des Fahrers ermöglicht“, berichtet Reichenecker. „So können wir die Fahrt in Echtzeit unter möglichst realistischen Bedingungen durchführen.“

Authentisches Fahrerlebnis

Die realitätsnahe Nachbildung der Fahrphysik in Echtzeit gewährleistet in Kombination mit einer passenden virtuellen Teststrecke ein authentisches Fahrerlebnis im Fahrsimulator. Die Fahrerin oder der Fahrer spürt das Lenkrad-Moment und erfährt im virtuellen Fahrversuch am Simulator, ob das Fahrzeug beispielsweise beim Bremsen ausbricht. Mithilfe der so gewonnenen Erkenntnisse können die Entwicklerinnen und Entwickler frühzeitig mit der Applikation der ESP-Funktion für ein spezifisches Fahrzeug beginnen, wodurch sich die Entwicklungszeit deutlich verkürzt. Seit rund einem Jahr arbeiten Rupp, Reichenecker sowie ihre Kolleginnen und Kollegen an der neuen Methode. Die Erwartungen an das Frontloading haben sich erfüllt, die ersten Versuchsfahrten für die ESP-Applikation sind Ende 2024 oder Anfang 2025 geplant.

Ingo Krems, Leiter Fachdisziplin Fahrdynamik & Absicherung bei Porsche Engineering, Porsche Engineering, 2024, Porsche AG
Virtuell trainieren, real meistern: Neben der Entwicklung werden Simulatoren auch für Fahrtrainings genutzt.

Bereits heute haben die Entwicklerinnen und Entwickler ein virtuelles Prüfgelände fertiggestellt, mit der alle relevanten Streckenpassagen für die ESP-Entwicklung mit unterschiedlichen Reibwerten oder Wetterbedingungen in einer Umgebung getestet werden können. Der Einsatz von Fahrsimulatoren für die Applikation wird durch mehrere Alleinstellungsmerkmale von Porsche Engineering begünstigt. Die Entwicklerinnen und Entwickler können beispielsweise beliebige digitale Streckenmodelle (siehe Porsche Engineering Magazin 1/2024) erzeugen, etwa mit heissen oder vereisten Fahrbahnen, im Flachland oder im Gebirge.Mithilfe der Erkenntnisse aus dem vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz geförderten Forschungsprojekt AVEAS (Absicherungsrelevante Verkehrssituationen erheben, analysieren, simulieren), an dem Porsche Engineering neben weiteren 20 Partnern wesentlich beteiligt ist, lassen sich zudem kritische Situationen während realer Versuchsfahrten identifizieren und in die Simulation überführen.

Die so erzeugten Streckenmodelle und Verkehrssituationen werden zudem variiert, um mehr Testfälle für die virtuelle Absicherung zu erzeugen. „Wir bringen unsere komplette Bandbreite an Modellierungsaktivitäten ein und können dadurch kundenspezifische Lösungen anbieten – inklusive der Physik und der Visualisierung des Gesamtfahrzeugmodells sowie aller Strecken und Szenarien“, sagt Rupp. „So wird es möglich, im Fahrsimulator in kurzer Zeit einmal durch Europa mit all seinen unterschiedlichen Klimazonen und Geländeprofilen zu fahren.“ Porsche Engineering betreibt momentan in China, Italien (Nardò Technical Center), Tschechien und Deutschland vier statische Echtzeit-Fahrsimulatoren und zwei spielbasierte Fahrsimulatoren.

Ingo Krems, Gesamtprojektleiter des neu entstehenden Virtual Validation Centers (VVC), Porsche Engineering, 2024, Porsche AG
Ingo Krems, Gesamtprojektleiter des neu entstehenden Virtual Validation Centers (VVC) bei Porsche

Alle Standorte arbeiten bei ihrem Einsatz und ihrer Weiterentwicklung zusammen, etwa im Bereich der Streckenmodellierung, der Weiterentwicklung des Simulations-Frameworks, der Modellintegration und der HiL-Anbindung. Einer der spielbasierten Fahrsimulatoren wird genutzt, um Entwicklerinnen und Entwickler auf Versuchsfahrten vorzubereiten (siehe Kasten).

Auch die Porsche AG setzt schon seit Jahren auf Fahrsimulatoren. Diese werden unter anderem in den Bereichen Fahrzeugfunktionen, HMI (Human Machine Interface), Ergonomie und Fahrkomfort eingesetzt. „Wir nutzen Fahrsimulatoren vor allem in Probandenstudien, in denen Teammitglieder, Testpersonen oder Entscheiderinnen und Entscheider zum Beispiel neue Fahrfunktionen bewerten sollen“, erklärt Ingo Krems, Gesamtprojektleiter des neu entstehenden Virtual Validation Centers (VVC) bei Porsche.

„Im Rahmen der virtuellen Gesamtfahrzeugerprobung können die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zum Beispiel die Anzeige- und Bedienelemente, ADAS-Funktionen, die Ergonomie sowie den Fahrkomfort von neuen Fahrzeugen validieren, erfahren und bewerten.“ Die Rückmeldungen der Probandinnen und Probanden fliessen direkt in die Weiterentwicklung der neuen Fahrzeuge ein.

Aktuell betreibt die Porsche AG in Weissach in der Serienfahrzeugentwicklung einen Fahrsimulator mit Bewegungsplattform und High-End-Visualisierungssystem sowie mehrere kleine statische Simulatoren (unter anderem mit VR-Brille), um Fahrzeuge virtuell erlebbar zu machen. Diese Infrastruktur wird im Zuge des VVC-Projekts derzeit weiter ausgebaut. „Wir werden zwei zusätzliche Fahrsimulatoren mit Bewegungsplattformen aufbauen“, so Krems. „Der erste, das sogenannte VFP.NVH-Lab, wird Ende des Jahres den Betrieb aufnehmen. Er wird den Anwendungsfokus auf Fahrkomfort und Akustik haben. Der zweite folgt Ende 2026 zeitgleich mit der Eröffnung des VVC. Dieser Simulator ermöglicht es, durch sein neuartiges Bewegungssystem, deutlich dynamischere Fahrzustände, aber auch urbane Fahrsituationen besser als bisher abzubilden.“

Fahrsimulatoren, Porsche Engineering, Weissach, 2024, Porsche AG

Virtual Validation Center in Weissach

Das VVC entsteht im Herzen des Entwicklungszentrums Weissach und wird eine Gesamtfläche von 2.100 Quadratmetern haben. Alle Grosssimulatoren, die in der Serienfahrzeugentwicklung verwendet werden, werden am neuen Standort in einem Gebäudekomplex zusammengeführt. Dort entstehen ebenfalls neue Mini-Simulatoren, die als Vorbereitungsplätze helfen, kostbare Versuchszeit in den Simulatoren mit Bewegungssystemen effektiver zu nutzen. Das Center wird in ein bestehendes Gebäude eingebaut.

„Wir haben uns gegen einen Neubau entschieden, um durch nachhaltiges Bauen CO₂ zu sparen und die wertvollen Flächen im Entwicklungszentrum effizient zu nutzen“, berichtet Krems. „Die neue Technik wird in einem der ältesten Gebäude des Entwicklungszentrums installiert – ganz nach der Devise: ‚Moderne trifft Tradition‘.“ Porsche Engineering und die Porsche AG nutzen das gleiche Fahrsimulator-Framework für die Entwicklung. „Dadurch ergeben sich vielversprechende Möglichkeiten für eine Zusammenarbeit beider Unternehmen“, sagt Rupp. „Wir könnten beispielsweise das benötigte Modell-Set-up mit den virtuellen Strecken, dem Umgebungsverkehr, dem Gesamtfahrzeug und der Fahrdynamik erzeugen und integriert erste Versuche mit unseren eigenen statischen Fahrsimulatoren durchführen. Basierend auf diesen Ergebnissen könnten die Entwicklerinnen und Entwickler später nahtlos zu den beweglichen Fahrsimulatoren von Porsche übergehen, um das dynamische Verhalten neuer Funktionen unmittelbar erlebbar zu machen. Zudem wären erweiterte Versuche in Sitzkisten mit realer Ergonomie möglich, um Erkenntnisse in noch realistischeren Prototypen zu gewinnen.“

Virtual Validation Center, Porsche Engineering, Weissach, 2024, Porsche AG
Virtuelle Erlebbarkeit: Porsche will in seinem neuen Virtual Validation Center (VVC) in Weissach den Einsatz von Fahrsimulatoren deutlich erweitern.
Virtual Validation Center, Porsche Engineering, Weissach, 2024, Porsche AG
In der finalen Ausbaustufe sind vier bis fünf Simulatoren geplant, von denen jeder spezielle Anforderungen aus der Fahrzeugentwicklung abdeckt.
Virtual Validation Center, Porsche Engineering, Weissach, 2024, Porsche AG
Zum Beispiel aus den Bereichen Ergonomie, HMI, Fahrkomfort und Fahrdynamik.

Reichenecker ergänzt: „Mit unseren statischen Fahrsimulatoren können wir den grössten Teil der Applikation schlank und schnell durchführen, und mit den dynamischen Fahrsimulationen im VVC kommen wir den realen Prototypen sehr nahe.“

Von Fahrsimulatoren sollen in Zukunft viele Entwicklungsbereiche profitieren. „Für uns sind die Fahrsimulatoren neben SiL- und HiL-Tests ein entwicklungsbegleitendes, zusätzliches ,Tool‘ in unserem Werkzeugkasten, aber kein Ersatz für die bestehenden Methoden“, fasst Rupp zusammen. „Dank unserer Kompetenz bei der Streckenmodellierung und der Fahrzeugsimulation sowie der Berücksichtigung des Umgebungsverkehrs und der realistischen Interaktion bieten wir unseren Kunden modulare Lösungen, die sich optimal an die jeweilige Anwendung anpassen lassen.“

Info

Text erstmals erschienen im Porsche Engineering Magazin, Ausgabe 2/2024.

Text: Christian Buck

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