Aktuell rollen Netzbetreiber mit Hochdruck 5G-Netze aus, mit deren Hilfe sich zahlreiche neue Anwendungen realisieren lassen – auch im Automobilbereich, wie die Entwicklung intelligenter und vernetzter Fahrzeuge im Nardò Technical Center von Porsche Engineering zeigt. Forschungseinrichtungen und Unternehmen denken jedoch noch einen Schritt weiter und haben bereits das Wettrennen um die nächste Generation des Mobilfunks eröffnet. Gegen Ende des Jahrzehnts soll der neue 6G-Standard unter anderem für noch höhere Datenraten, geringere Verzögerung und eine verbesserte Zuverlässigkeit sorgen. „In den USA, China und Europa gibt es intensive Aktivitäten in diesem Bereich“, berichtet Andreas Müller, Leiter aller 6G-Projekte bei Bosch.
„Man hat in allen Weltregionen erkannt, dass die nächste Mobilfunkgeneration ein Thema von strategischer Bedeutung ist.“ Bis 6G Einzug in den Alltag von privaten und industriellen Nutzern halten kann, haben die Forscher allerdings noch viel Arbeit vor sich, denn für die künftigen 6G-Netze müssen sie die Grenzen des technisch Machbaren ein ganzes Stück verschieben. So haben die Entwickler beispielsweise die dritte Dimension entdeckt, um einen weltweit ununterbrochenen Datenaustausch sicherzustellen. „Bisher hat man sich beim Mobilfunk vor allem auf die Erdoberfläche beschränkt“, sagt Bernhard Niemann, Abteilungsleiter Breitband und Rundfunk am Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen IIS. „Bei 6G werden Satelliten hingegen erstmals von Anfang an in das Netzwerk integriert sein.“
Übergabe von Satellit zu Satellit
Das könnten einerseits die ortsunveränderlichen Satelliten im geostationären Orbit (GEO) in knapp 36.000 Kilometern Höhe sein, andererseits aber auch ihre tiefer kreisenden Pendants, beispielsweise im Low Earth Orbit (LEO), der sich 200 bis 2.000 Kilometer oberhalb der Erdoberfläche befindet. Selbst Ballons liessen sich nutzen, um als „High Altitude Platforms“ in 15 bis 20 Kilometern Höhe als 6G-Basisstationen zu dienen. Bei höheren Frequenzen ab 10 Gigahertz müssen sich die Antennen der 6G-Geräte in Richtung der Satelliten oder Ballons ausrichten. Bei den LEO-Satelliten kommt eine weitere Herausforderung hinzu: Weil sie sich schnell am Himmel bewegen, muss die Verbindung regelmässig von einem Satelliten an den nächsten übergeben werden – ohne dass der Nutzer etwas davon bemerkt. Die Performance von 6G soll auch mithilfe Künstlicher Intelligenz (KI) gesteigert werden.
„Bei 6G werden Satelliten erstmals von Anfang an in das Netzwerk integriert sein.“ Bernhard Niemann, Abteilungsleiter Breitband und Rundfunk, Fraunhofer IIS
KI-Algorithmen könnten zum Beispiel die Mobilfunk-Netzwerke flexibel an die aktuellen Gegebenheiten anpassen und so ihren Betrieb optimieren. „Mit maschinellem Lernen kann man Nutzungsmuster im Tagesverlauf erkennen“, erklärt Fraunhofer-Forscher Niemann. „Diese Informationen liessen sich nutzen, um die 6G-Netze mit minimalem Energieaufwand zu betreiben.“ Bosch-Experte Müller kann sich auch KI-gestützte Basisdienste vorstellen, die das Mobilfunknetz seinen Nutzern zur Verfügung stellt: „Denkbar wäre, dass das 6G-Netz Services wie Objektklassifizierung in Videoaufnahmen anbietet.“ Müller hält es sogar für möglich, dass man die Datenübertragung nicht mehr klassisch standardisiert und genau festlegt, wie ein Signal erzeugt wird, sondern die Auswahl des unter den aktuellen Umständen jeweils besten Verfahrens neuronalen Netzen auf der Sender- und Empfängerseite überlässt. Erste Schritte in Richtung KI-gestützte Hardware sind Rohde & Schwarz und der Chiphersteller NVIDIA bereits gegangen: Sie haben im Februar einen „neuronalen Empfänger“ vorgestellt, in dem ein KI-Modell im Vergleich zu einem leistungsfähigen Standard-Algorithmus eine deutlich bessere Performance aufweist. „Dieses Verfahren kann auch in künftige 6G-Smartphones integriert werden“, erklärt Taro Eichler, Technologiemanager für Wireless Communication und Photonik bei Rohde & Schwarz.
Vorstoss in den Terahertz-Bereich
Viele Innovationen sind auch nötig, um die geplanten hohen Datenraten zu erreichen: „Bis zu einem Terabit pro Sekunde sollen künftig möglich sein“, so Niemann. „Dazu muss man höhere Frequenzbereiche erschliessen, weil nur dort die erforderlichen Bandbreiten für die schnelle Datenübertragung zur Verfügung stehen.“ Geplant ist darum, Frequenzen im Sub-Terahertz-Bereich zwischen 90 und 300 Gigahertz und eventuell auch im Terahertz-Bereich ab 300 Gigahertz zu nutzen. Zum Vergleich: 4G arbeitet unterhalb von sechs Gigahertz, 5G sieht theoretisch zwar die Datenübertragung bei bis zu 71 Gigahertz vor – sie wird derzeit aber kaum für mobile Breitbanddienste genutzt. Frequenzen im dreistelligen Gigahertz-Bereich bieten zwar viel Bandbreite, dafür macht die Physik den 6G-Entwicklern dort aber das Leben schwer.
Funkwellen verlieren in der Luft schnell ihre Energie und kommen darum nur wenige Meter weit. Um die Reichweite zu steigern, setzen Forscher auf „Massive MIMO“ (Massive Multiple Input Multiple Output): Hunderte winzige Antennen werden zusammengeschaltet und richten softwaregesteuert den Funkstrahl zwischen Sender und Empfänger aus. „Dieses Beamforming mit beispielsweise 512 oder 1.024 Antennen ermöglicht es, die Reichweite der Funkwellen auch bei solch hohen Frequenzen deutlich zu erhöhen“, erklärt Professor Dr. Ivan Ndip, der am Fraunhofer-Institut für Zuverlässigkeit und Mikrointegration IZM die Abteilung RF & Smart Sensor Systems leitet. „Beamforming ermöglicht eine hohe Mobilität und Flexibilität in der Kommunikation, erhöht aber auch die Komplexität der Hardware, da zahlreiche Transceiver-Kanäle erforderlich sind. Ausserdem steigen Energieverbrauch und Kosten. Für die Punkt-zu-Punkt-Kommunikation bieten Linsenantennen eine alternative Lösung. Sie können bei 6G-Frequenzen über 100 Gigahertz Reichweiten von bis zu mehreren Hundert Metern ermöglichen.
Daher sollten die Transceiver-Architektur, die Antennenkonfigurationen und die Anzahl der Antennen entsprechend der Anwendung festgelegt werden, um eine kostengünstige und energieeffiziente 6G-Lösung zu gewährleisten.“ Eine andere Methode zur Reichweitensteigerung soll ebenfalls erstmals bei 6G zum Einsatz kommen: rekonfigurierbare intelligente Oberflächen. „Bisher wurden die Ausbreitungseigenschaften und der Kanal für die Funkwellen als unveränderlich betrachtet, vorgegeben etwa durch die Wände innerhalb von Gebäuden“, erklärt Eichler. „In Zukunft könnte man die Signale aber an Oberflächen reflektieren, um sie gezielt zu lenken und so eine bessere Abdeckung zu erzielen. Das ist ein völlig neuer Ansatz.“
Rekonfigurierbare intelligente Oberflächen sind flache Strukturen mit integrierten elektronischen Schaltkreisen, zum Beispiel speziellen Dioden oder Flüssigkristallstrukturen in Kombination mit winzigen Antennenelementen. Sie können so programmiert werden, dass sie die ankommenden Funkwellen massgeschneidert umlenken und auf diese Weise genau zum vorgesehenen Empfänger umleiten. Vorteil der neuen Technik: Sie soll deutlich energieeffizienter und günstiger als klassische Funk-Repeater sein, die jeweils einen kompletten Sender und Empfänger enthalten.
Allerdings ist in diesem Bereich noch viel Forschungsarbeit nötig. Vor grossen Herausforderungen stehen auch die Designer von Hochfrequenz-Chips und -Systemen. Einerseits müssen sie bei Frequenzen im hohen Gigahertz-Bereich spezielle Halbleiter wie Siliziumgermanium oder Galliumnitrid einsetzen, andererseits spielt dort auch die Integration aller Komponenten zu einem System eine zentrale Rolle. „Man muss hier alles neu denken“, so Ndip. „Denn es ist sehr schwierig, die Energie des Senders möglichst verlustarm zur Antenne zu bringen und gleichzeitig die Wärme aus den Chips abzuführen.“
Auch hier sind neue Materialien sowie die Aufbau- und Verbindungstechnik der Schlüssel zum Erfolg: Substrate aus Polymeren, Gläsern oder Keramiken könnten die Grundlage für integrierte Packages aus 6G-Chips und -Antennen sein. Der Einsatz hoher Frequenzen eröffnet neben hohen Datenraten noch eine weitere neue Möglichkeit: die Verschmelzung von Kommunikation und Umfelderkennung. In Zukunft liessen sich die 6G-Funkwellen auch dazu nutzen, um wie bei einem Radar mithilfe von reflektierter Strahlung Objekte, Oberflächen und Bewegungen in der Nähe zu erkennen.
„Fahrzeuge könnten über 6G beispielsweise untereinander Daten austauschen und zugleich die dabei entstehenden Reflexionen auffangen, um sich ein Bild von ihrer Umgebung zu machen“, erklärt Bosch-Experte Müller. „Während Kommunikation und Radar heute noch völlig getrennt sind, könnte man in einigen Jahren für beides die gleichen Frequenzen, Chips und Antennen nutzen.“ Im Forschungsprojekt "6G-ICAS4Mobility" arbeitet Bosch mit Partnern daran, die derzeit getrennten Kommunikations- und Radarsysteme enger miteinander zu verzahnen und in ein einziges 6G-System zu integrieren. Dazu sollen die Echtzeit-Sensordaten verschiedener mobiler Fahrzeuge über 6G-Mobilfunk koordiniert und kombiniert werden, um ein genaueres Bild der Fahrzeugumgebung zu erhalten.
Ziel ist es, die Verkehrssicherheit und die Effizienz der Strassennutzung zu erhöhen. Auch Experte Ndip sieht im Automobilbereich viele 6G-Einsatzmöglichkeiten, zum Beispiel für das autonome Fahren: „Ein autonomes Fahrzeug muss anderen Verkehrsteilnehmern seine Position in Echtzeit mitteilen, Abstände präzise messen und sich gleichzeitig 360 Grad umschauen können.“ Nötig seien auch Downloads grosser Datenmengen, etwa von Stadtplänen in hoher Auflösung, von Videobildern anderer Fahrzeuge oder von hochauflösenden Filmen für die Unterhaltung während der Fahrt.
„Beamforming mit 512 oder 1.024 Antennen ermöglicht es, die Reichweite der Funkwellen auch bei hohen Frequenzen deutlich zu erhöhen.“ Prof. Dr. Ivan Ndip, Leiter der Abteilung RF & Smart Sensor Systems am Fraunhofer IZM
Dank der hohen 6G-Datenraten wäre das kein Problem – so liessen sich beispielsweise 4K-Videos oder umfangreiche Karten-Updates über eine Basisstation an einer Kreuzung oder Tankstelle in kurzer Zeit ins Fahrzeug laden. „Datendusche“ nennt Fraunhofer-Forscher Niemann diesen Vorgang. Neben dem Automobilbereich soll 6G auch neue Anwendungen in der industriellen Fertigung, der Telemedizin oder der Robotik ermöglichen. Entsprechend gross ist die staatliche Unterstützung für die vielfältig einsetzbare Technologie: Allein in Deutschland fördert das Forschungsministerium die Mobilfunk-Zukunftstechnik bis 2025 mit rund 700 Millionen Euro. „5G wurde hierzulande ein wenig verschlafen“, sagt Eichler.
„Um technologisch autark zu sein, auch wegen der aktuellen geopolitischen Situation, möchte man bei 6G unabhängiger werden und in Deutschland beziehungsweise Europa langfristig ein eigenes Wireless-Ökosystem aufbauen.“ Dazu dienen unter anderem vier „6G-Hubs“ aus Universitäten und Forschungseinrichtungen, die drei Jahre lang mit jeweils 70 Millionen Euro gefördert werden. Zusätzlich wurden rund 20 Industrieprojekte gestartet, in Zusammenarbeit mit verschiedenen Partnern aus den 6G-Hubs, die das Forschungsministerium ebenfalls unterstützt.
Kein Ende in der Entwicklung in Sicht
Ende des Jahrzehntes könnten erste Vorläufer von 6G-Netzen in Betrieb gehen, voraussichtlich aber noch mit reduziertem Funktionsumfang. Nach 2030 dürften dann alle neuen Funktionen schrittweise eingeführt werden. Dass die Entwicklung des Mobilfunks mit 6G an ihr Ende gekommen sein könnte, befürchtet Fraunhofer-Experte Niemann aber nicht. „Ich bin mir sicher, dass auch in Zukunft wieder etwas Neues kommen wird“, sagt er. „So wie heute KI erstmals Einzug in den Mobilfunk hält, könnten bei der nächsten Generation quantenbasierte Verfahren und Algorithmen eine wichtige Rolle spielen, zum Beispiel für die Verschlüsselung.“
Auch den Einsatz der Blockchain hält er für möglich, um Transaktionen abzusichern und Vertrauen zu schaffen. So liessen sich mit deren Hilfe beispielsweise Nachrichten zwischen Fahrzeugen fälschungssicher protokollieren. „Jeder Datenaustausch der Vehicle-to-Vehicle-Kommunikation – etwa der Hinweis auf ein Hindernis auf der Fahrbahn – würde in der Blockchain gespeichert“, so Niemann. „Schon diese wenigen Beispiele zeigen: 7G wird neue Trends aufgreifen und heute noch undenkbare innovative Services ermöglichen.“
Zusammengefasst
Forscher und Unternehmen arbeiten bereits am nächsten Mobilfunkstandard 6G. Er soll etwa 2030 zur Verfügung stehen und neben Leistungsverbesserungen auch neue Anwendungen ermöglichen. Zum Beispiel lassen sich die gleichen Frequenzen für Kommunikation und Radar nutzen, sodass Datenaustausch und Umfelderkennung gleichzeitig durchgeführt werden können. Grundlage für die neuen 6G-Anwendungen sind hoch entwickelte Halbleiter und intelligente Antennen-Arrays zur Strahlformung.
Info
Text erstmals erschienen im Porsche Engineering Magazin, Ausgabe 2/2023.
Text: Christian Buck
Illustrationen: Andrew Timmins
Copyright: Alle in diesem Artikel veröffentlichten Bilder, Videos und Audio-Dateien unterliegen dem Copyright. Eine Reproduktion oder Wiedergabe des Ganzen oder von Teilen ist ohne die schriftliche Genehmigung der Dr. Ing. h.c. F. Porsche AG nicht gestattet. Bitte kontaktieren Sie newsroom@porsche.com für weitere Informationen.