Ein Plan für alle Fälle

Systemrelevante Unternehmen wie der Energieversorger RWE müssen für Krisen besonders gewappnet sein. Präzise ausgearbeitete Pläne sorgen für schnelle Reaktionen auf unerwartete Ereignisse.

Damit hat in diesem Moment wohl keiner der Teilnehmer der Telefonkonferenz gerechnet: Die Alarmglocke schrillt so laut, dass sie überdeutlich am Hauptsitz von RWE in Essen und auch in der Leitung für die Gesprächspartner zu hören ist. „Das passt ja jetzt wie bestellt“, sagt Dr. Cord-Henrich Lefhalm. Der Maschinenbauingenieur und Physiker berichtet gerade über die Krisenpläne des Energieversorgers, auch in Hinblick auf die Corona-Pandemie. Als Leiter der Rückbausteuerung bei der RWE Nuclear GmbH ist er verantwortlich für die übergreifende Steuerung des Rückbaus der fünf RWE-Kernkraftwerksstandorte bis Mitte der 2030er-Jahre – diese ist Folge des Beschlusses der Bundesregierung aus dem Jahr 2011, aus der Kernenergie auszusteigen. Seit Beginn der Corona-Pandemie ist Lefhalm auch Leiter des Krisenstabs von RWE Nuclear und damit Mitglied des RWE-Konzernkrisenstabs.

Dr. Cord-Henrich Lefhalm, Leiter Rückbausteuerung, RWE Nuclear, 2020, Porsche AG
Zur Sicherheit der Rolls-Royce-Mitarbeiter werden für bestimmte gemeinsame Montageschritte mobile Plexiglas-Trennwände eingesetzt, wie hier bei der Kerntriebwerksmontage eines „Trent XWB“-Triebwerks am Rolls-Royce-Standort in Derby, Grossbritannien. Foto: Rolls-Royce

Das Unternehmen liefert mit den vier operativen Gesellschaften RWE Renewables, RWE Generation, RWE Power – zu der RWE Nuclear gehört – sowie RWE Supply & Trading rund 43 Gigawatt Strom für Haushalte in Deutschland, Europa und den USA. Im Herbst 2019 übernahm RWE im Rahmen einer Transaktion mit dem deutschen Energiekonzern E.ON dessen komplettes Portfolio an erneuerbaren Energien und wurde damit zu einem der drei grössten Anbieter in Europa für regenerative Energien. Bei der Offshore-Windkraft ist das Unternehmen weltweit sogar die Nummer zwei. Bis 2040 soll RWE klimaneutral werden. Der Konzern beschäftigt insgesamt rund 20.000 Menschen und zählt zu den sogenannten systemrelevanten Unternehmen, wie sie gesetzlich vom deutschen Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) definiert sind. „Unsere oberste Pflicht ist es, unter allen Umständen zu vermeiden, dass die Stromnetze ausfallen“, sagt Energiespezialist Lefhalm.

Information innerhalb einer Stunde

Gefahren gibt es viele, doch die Unterbrechung der Telefonkonferenz nehmen Lefhalm und seine Gesprächspartner gelassen. Der Krisenmanager hält die Verbindung zu den anderen Teilnehmern am Mobiltelefon aufrecht und geht mit schnellen Schritten von seinem Büro ins Freie. Kurz darauf stellt sich der Alarm als vergleichsweise harmloses Intermezzo heraus: Eine Feuerschutztür wurde unsachgemäss geöffnet; die Mitarbeiter können an ihre Arbeitsplätze zurückkehren. Störungen schnell in den Griff bekommen – das ist bei RWE Nuclear kein Zufall, sondern das Ergebnis ständiger Übung und ausgefeilter Planung. „Unsere Handbücher mit genauen Vorgaben für Krisenfälle pflegen wir sowohl klassisch in Form von Ordnern mit Papier als auch digital“, sagt Lefhalm.

„Wir planen für bestimmte kerntechnische Szenarien und üben mit Simulatoren verschiedene Krisenfälle mehrmals jährlich.“ Dr. Cord-Henrich Lefhalm

Für seinen Verantwortungsbereich in der Kernenergie gilt das im Besonderen. An jedem Kernkraftwerksstandort gebe es einen dezentralen Krisenstab, dazu einen zentralen Krisenstab am Hauptsitz des Konzerns. An allen Betriebsstätten stehen Schutzräume für Mitarbeiter bereit, im äussersten Notfall können sie sich innerhalb der Kraftwerke einschliessen und den Betrieb sichern.

Am Krisenmanagement seien RWE-Mitarbeiter aller Hierarchieebenen beteiligt, jeweils organisiert in Teams. Es komme auf das Detailwissen und die schnelle Reaktion von allen an. „Wir planen für bestimmte kerntechnische Szenarien und üben mit Simulatoren verschiedene Krisenfälle mehrmals jährlich. Auch die Aufsichtsbehörden sind an diesen Massnahmen beteiligt“, betont Lefhalm. Die Bandbreite reiche dabei von kleineren Störungen wie der versehentlich geöffneten Tür bis zum schwerstmöglichen Unfall. Doch dieser sei so gut wie ausgeschlossen. Und der Informationsfluss für Mitarbeiter bis hoch zum Vorstand sei festgelegt. „In maximal einer Stunde nach einem Vorfall wissen auch die zuständigen Vorstände Bescheid und können über die nächsten Schritte entscheiden“, sagt der Fachmann für Krisenbewältigung. „Für den schnellen Informationsfluss sorgt ein rechnergestütztes System, das den zentralen Krisenstab automatisch zusammenruft.“

Planvolles Handeln wichtiger als Visionen

Gute Planung und effiziente Umsetzung sind das A und O im Krisenfall. Das betonen auch Organisationspsychologen wie Gianpiero Petriglieri, Psychiater und ausserordentlicher Professor für Organizational Behavior an der Business School Insead mit Hauptsitz im französischen Fontainebleau nahe Paris. Laut Petriglieri zeige sich echtes „leadership“ eben nicht in erster Linie in Visionen. Diese würden zwar inspirieren, motivieren und Hoffnungen bei Mitarbeitern wecken, wichtiger als Visionen sei jedoch etwas, das Psychologen „holding“ nennen: Führungskräfte müssten Mitarbeiter auffangen, deren Emotionen akzeptieren, ihnen Zusammenhänge und Sinn für die Realität vermitteln und sie zu entsprechendem Handeln anleiten. Ohne Vorbereitung und Pläne ist in Ausnahmesituationen kein strukturiertes und nachvollziehbares Handeln möglich – und damit auch kein überzeugendes „holding“.

Kernkraftwerk, 2020, Porsche AG
Sicherheit geht vor: Kernkraftwerke wie hier im Emsland gehören zur kritischen Infrastruktur Deutschlands. Systemrelevante Unternehmen wie RWE müssen auf Krisenfälle bestens vorbereitet sein

Das gilt insbesondere für Pandemien, die immer mit Angst vor Ansteckung und deren Folgen einhergehen. Auch auf diese Situation war und ist RWE vorbereitet: Die Pläne wurden im Zuge der SARS-Epidemie 2002 und 2003, bei der sich eine Variante von SARS-CoV vor allem über Asien ausgebreitet hat, auf den neuesten Stand gebracht. „Schon damals wurde definiert, was im Falle einer Pandemie zum Schutz der Mitarbeiter nötig ist, vor allem Mund-Nasen-Schutz und Desinfektionsmittel“, sagt Lefhalm. Unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Coronagefahr Anfang 2020 hätten die Krisenteams bei RWE Nuclear organisatorische Vorkehrungen getroffen, die garantierten, dass der Leistungsbetrieb und gleichzeitig der Schutz der Mitarbeitenden aufrechterhalten werden konnten. „Dazu zählen auch die Kontrolle am Eingang zum Werksgelände mit Fiebermessen und restriktive Regelungen für die Selbstquarantäne“, ergänzt Lefhalm.

„Wir arbeiten mit hohen Sicherheitsstandards auf einem abgeschlossenen Gelände und haben es daher einfacher als andere Wirtschaftszweige.“ Dr. Cord-Henrich Lefhalm

Die Pandemie brachte nun noch weitere Erkenntnisse: „Wir haben gelernt, wie wichtig die internationale Abstimmung ist. Es gibt überall dieselben Herausforderungen bei Krisen, insbesondere das Wahrnehmen unserer Fürsorgepflicht als Arbeitgeber für unsere Mitarbeiter, die Belieferung unserer Kunden und die garantierte Energielieferung für das reibungslose Funktionieren unserer Volkswirtschaft. Das geht nur im internationalen Verbund. Wir müssen unsere Erfahrungen austauschen und voneinander lernen.“

Krisenkultur als Basis für schnelle Reaktion

Die umfangreichen Massnahmen haben dazu geführt, dass RWE Nuclear von Covid-19-Erkrankungen in den Monaten nach dem Ausbruch verschont geblieben ist. „Wir arbeiten mit hohen Sicherheitsstandards auf einem abgeschlossenen Gelände und haben es daher einfacher als andere Wirtschaftszweige“, so Lefhalm. Trotzdem waren viele Mitarbeiter mittelbar von der Pandemie betroffen. Kernkraftwerke müssen jedes Jahr komplett überprüft werden. Sie werden vom Netz genommen, Tausende von Einzelteilen wie Pumpen, Brennstäbe, Ventile, Kondensatoren und Motoren gecheckt. Erst wenn alle bis ins Detail vorgeschriebenen Prüfschritte abgearbeitet sind und ein Gutachter und die zuständige Behörde eine Freigabe erteilen, darf ein Kernkraftwerk wieder ans Netz. Revision wird dieses Mammutprojekt genannt, bei dem in normalen Zeiten bis zu tausend zusätzliche Mitarbeiter von Partnerfirmen auf dem Gelände eines Kraftwerks arbeiten. „Das geht nicht zu Corona-Zeiten“, sagt Kraftwerksspezialist Lefhalm. „Wir mussten daher vollständig umplanen. Doch unsere Mitarbeiter haben trotz des Aufwands nicht mal gezuckt, sondern mit Vollgas mitgemacht.“ Die im Mai 2020 unter strengen Sicherheitsvorkehrungen erfolgreich abgeschlossene Revision im Kernkraftwerk Emsland habe das eindrucksvoll unterstrichen. Damit derartige Massnahmen funktionierten, seien eine fest etablierte Krisenkultur und das Bewusstsein der Mitarbeiter über ihre wichtige Rolle von zentraler Bedeutung. So etwas lasse sich nicht von heute auf morgen einführen – auch deshalb wird bei RWE Nuclear weiterhin für jeden erdenklichen Ernstfall geübt.

Info

Text erstmalig erschienen im Porsche Consulting Magazin.

Fotos: Bloomberg/Getty Images, RWE

Dieser Beitrag wurde vor dem Start des Porsche Newsroom Schweiz in Deutschland erstellt. Die genannten Verbrauchs- und Emissionsangaben richten sich daher nach dem Prüfverfahren NEFZ und wurden unverändert übernommen. Alle in der Schweiz gültigen Angaben nach WLTP-Messzyklus sind unter www.porsche.ch verfügbar.

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