Welche Trends werden die Automobilentwicklung in Zukunft am stärksten prägen?
Michael Steiner: Die Elektrifizierung wird die Automobilindustrie schnell weitgehend durchdringen, wenn auch nicht vollständig. Denn die Geschwindigkeiten der Transformation dürften in verschiedenen Marktsegmenten und Regionen der Welt unterschiedlich sein. Zudem werden dank höherer Datenübertragungsraten und Datenverfügbarkeit sowie der Verbindung zu Backends in der Cloud immer mehr Funktionen im Auto verfügbar sein. Umgekehrt könnten dann auch Funktionen aus dem Fahrzeug ins Backend verlagert werden. In diesem Sinne wird das „Software-defined Vehicle“ mehr und mehr die Automobilindustrie beeinflussen. Die Entwicklung wiederum wird schon allein wegen der steigenden Komplexität immer mehr mit Softwaremethoden und Simulationsfahrzeugen erfolgen.
„Datengetriebene Entwicklung ist unverzichtbar, um die zunehmende Komplexität beherrschbar zu machen.“ Michael Steiner
Herr Eberl, wie ist Ihre Sicht auf die wichtigsten Trends?
Markus-Christian Eberl: Ich möchte die zunehmende Heterogenisierung der Welt ansprechen. Wir beobachten, dass sich die Erwartungshaltung an das Fahrzeug ändert. In vielen Regionen entstehen neue Kundenerwartungen, die unter anderem durch eigenständige, lokale Ökosysteme beeinflusst werden. Hierauf müssen wir fahrzeugseitig reagieren. Hinzu kommt eine wachsende Heterogenisierung der technischen Regularien: Die Anforderungen an Fahrzeuge und damit auch an unsere Dienstleistungsprodukte werden vielfältiger und immer anspruchsvoller. Wir müssen uns auf diese Entwicklung einstellen und in unterschiedlichen Regionen der Welt massgeschneidert agieren. Ein weiterer Megatrend, den ich hier nennen möchte, ist das Thema ökologische Nachhaltigkeit: Eigentlich wird die Bezeichnung „Trend“ dieser Thematik nicht wirklich gerecht, denn es handelt sich eher um eine in grosser Breite erkannte und akzeptierte Handlungsnotwendigkeit – dies ist viel mehr als ein blosser Trend. Die Erkenntnis, dass die Menschheit auf das CO₂-Problem und auch auf weitere Umweltbelastungen reagieren muss, hat sich in den letzten Jahren immer mehr durchgesetzt. Für uns heisst das: Die Bedeutung von nachhaltigem Engineering nimmt weiter zu.
Steiner: Das gilt für einen Hersteller von Luxusprodukten wie Porsche natürlich im besonderen Masse. Wir wollen und müssen auch in der Dimension Nachhaltigkeit Vorbild sein – nicht nur im Betrieb des Fahrzeugs, sondern auch bei der Herstellung und der Wiederverwertbarkeit. Letztere spielt bei Porsche zwar keine so grosse Rolle, weil die meisten der von uns produzierten Fahrzeuge so gut wie nie ausser Dienst gestellt werden. Dennoch: Wer heute glaubwürdig Luxus verkörpern will, kann das nicht nur durch Hightech, Qualität und Marke tun. Er muss auch Vorbild in der Nachhaltigkeit sein.
Um das hochautomatisierte Fahren ist es in letzter Zeit ruhiger geworden. Was wird hier in Zukunft zu erwarten sein?
Steiner: Technisch geht hier heute schon sehr viel. Ich denke, dass in zwei oder drei Jahren Level-4-Fahren technisch grundsätzlich möglich sein wird. Das ist bei Porsche aber derzeit kein Thema. Da man einen Porsche immer selbst fahren will, werden Porsche auch immer ein Lenkrad und Pedale haben. Das heisst aber nicht, dass wir unseren Kunden in Zukunft nicht auch automatisierte Fahrfunktionen bis Level 3 anbieten werden, um sie etwa beim Einparken oder im Stau auf der Autobahn zu entlasten. Bei automatisierten Fahrfunktionen geht es uns nicht darum, als Erstes im Markt präsent zu sein. Vielmehr steht bei der Entwicklung für Porsche höchstmöglicher Nutzwert und grosse Zuverlässigkeit im Fokus. Grundsätzlich muss das hochautomatisierte Fahren mit Level 4 oder sogar 5 dann aber auch zulassungsfähig sein und wirtschaftlich Sinn ergeben. In einigen Städten – darunter Phoenix und San Francisco – sind schon Testflotten unterwegs, zum Teil im halbgewerblichen Betrieb und ohne Fahrer. Das funktioniert, allerdings nur mit einem extremen technologischen Aufwand. Wirtschaftlich ist das noch nicht. Eine weitere Herausforderung: Viele der Fahrzeuge arbeiten stark mit KI Methoden. Hier besteht eine wesentliche Herausforderung darin, den erforderlichen Sicherheitsnachweis deterministisch zu erbringen, denn diese Systeme lernen. Testfahrten über Millionen von Kilometern durchzuführen ist hierfür nicht mehr ausreichend. Wir benötigen vielmehr ergänzende Methoden – beispielsweise über begrenzende Fahrstrategien eher deterministischer Natur, in deren Rahmen das Fahrzeug eine Feinstrategie mit KI-Methoden entwickeln kann.
„Unser Anspruch ist es, Technologiepartner für das intelligente und vernetzte Fahrzeug zu sein.“ Markus-Christian Eberl
Eberl: Wir investieren bei Porsche Engineering konsequent in Methoden und Kompetenzen für die intelligenten und vernetzten Fahrzeuge der Zukunft. Denn wir sind sicher, dass in naher Zukunft wesentliche Fortschritte in diesem Bereich erreicht werden. Folgende Faktoren möchte ich hier ansprechen: Erstens können erweiterte Konnektivitäts- und Fahrunterstützungsfunktionen aus verlorener Zeit direkt Nutzzeit machen, beispielsweise in einer Stau-Situation. Damit wird Verschwendung von einer unserer wertvollsten Ressourcen, nämlich unserer Zeit, reduziert. Dies spricht dafür, dass assistierte Fahrfunktionen weiter zunehmen werden, bis hin zum automatisierten Fahren. Der zweite Faktor ist ein technischer Enabler: geometrisch miniaturisierte, preislich sinkende und bezüglich Leistungsfähigkeit steigende Rechenleistung. Diese ermöglicht heute eine Echtzeitverarbeitung von grossen Mengen an Sensordaten im Fahrzeug. Genau in diesem Themengebiet haben wir umfassend Kompetenzen und Kapazitäten aufgebaut. Und wir haben den grossen Vorteil, die virtuelle, algorithmische und datengetriebene Entwicklung entsprechender Funktionen auf unserem eigenen Testgelände in Nardò mit der realen Welt verbinden zu können.
Steiner: Das ist ein wichtiger Punkt. Jeder Hersteller möchte in einer gesicherten und reproduzierbaren Umgebung arbeiten, um neue Funktionen effizient in verschiedensten Variationen testen sowie Fahrzeuge und Netzwerke trainieren zu können.
Welches Thema treibt Sie derzeit noch um?
Eberl: Das Thema Innovationskraft ist mir ein grosses Anliegen, denn die Innovationszyklen werden im Vergleich zu früher immer kürzer. Eine entscheidende Aufgabe besteht darin, unsere Innovationsfähigkeit beizubehalten beziehungsweise weiter zu steigern. Das klingt einfach, ist aber schwierig. Denn Innovationskraft bedeutet: Innovationen müssen durch den kompletten Trichter bis ins Endprodukt kommen. Fast täglich entstehen innovative Ideen bei unseren Mitarbeitern, kleinere und grössere. Hier besteht eine wesentliche Herausforderung darin, guten Ideen den Weg zu ebnen und sie nicht alltäglichen operativen Verpflichtungen oder Formalien zum Opfer fallen zu lassen. Um das zu erreichen, spielt Kultur eine grosse Rolle – auch beim Dienstleister. Wenn ich heute Technologiepartner sein möchte, muss ich meinen Kunden mehr liefern als nur die einfache Antwort auf das, was er oder sie gefragt hat.
„Wir brauchen eine offene Innovationskultur – auch vom Partner zu uns.“ Michael Steiner
Was heisst das konkret?
Eberl: Unser Anspruch bei Porsche Engineering ist es, Technologiepartner für das intelligente und vernetzte Fahrzeug zu sein. Das bedeutet: Wir haben die Fähigkeit, über den Tellerrand zu schauen und unseren Kunden auch jenseits der vielleicht engen Fragestellungen eine Antwort zu liefern – also mitzudenken, den Lösungsraum aufzumachen, an der Lösungsgestaltung im kreativen Sinne mitzuwirken und dadurch einen Mehrwert zu liefern. Dafür benötigen wir entsprechend ausgestaltete Schnittstellen zu und Zusammenarbeitsmodelle mit unseren Auftraggebern: Wir haben den Anspruch, eigene Ideen bei unseren Auftraggebern einzubringen, ohne natürlich die ursprüngliche Aufgabenstellung aus den Augen zu verlieren. Das führt zu einem Mehrwert für beide Seiten: für den Kunden und für den Dienstleister und seine Mitarbeiter.
Steiner: Das kann ich nur unterstreichen. Die Innovationen von morgen werden nicht alle aus Weissach kommen, sondern auch von Partnern und sicherlich teilweise auch aus ganz anderen Branchen. Wir brauchen darum eine offene Innovationskultur – auch vom Partner zu uns. Darum ist Porsche Engineering nicht nur bei uns beliebt. Die Ingenieure und Software-Entwickler bringen eigene Ideen mit und sind trotzdem kundenorientiert. Es ergibt keinen Sinn, wenn man Kunden etwas schmackhaft machen möchte, was sie gar nicht wollen. Porsche Engineering hat die Fähigkeit, auch im Verlauf eines Projekts als Anregung Input zu liefern, der zwar gar nicht so spezifiziert war, jedoch Mehrwert bringt. Wir müssen dann zuhören und dürfen den Rollladen nicht gleichzumachen. Das meine ich mit Innovationsdurchlässigkeit.
Was zeichnet Porsche Engineering als Partner auf Augenhöhe aus?
Eberl: Um erfolgreich zu sein, braucht man einerseits Wissen. Und man benötigt andererseits Erfahrung, die nicht einfach generierbar ist, denn sie entsteht über einen langen Zeitraum und ist eine Art kumulierte Erkenntnis aus fortwährender Tätigkeit. Als Tochtergesellschaft eines Herstellers sind wir seit Jahrzehnten in der Automobilentwicklung tätig und verstehen nicht nur die neuen Themen, sondern auch deren Vernetzung mit den klassischen Disziplinen sowie die Integration ins Gesamtfahrzeug. Wir haben also nicht nur spezifisches Wissen, sondern auch Erfahrung, sehr viel Erfahrung! Die dritte Zutat ist Kultur: Wir schaffen Rahmenbedingungen, die Kreativität freisetzen und Umsetzungsstärke fördern. Auf Basis dieser drei Säulen – Wissen, Erfahrung und Kultur – gestalten wir kundenspezifisch unsere Leistungen aus. Mit diesem Porsche Engineering-Dreiklang generieren wir Mehrwert für unsere Auftraggeber.
„Wir schaffen Rahmenbedingungen, die Kreativität freisetzen und Umsetzungsstärke fördern.“ Markus-Christian Eberl
Herr Steiner, das Auto wird immer komplexer. Verschiebt sich dadurch die Arbeitsteilung zwischen den OEMs und den Entwicklungspartnern?
Steiner: Tendenziell wird in Zukunft mehr durch Dritte entwickelt werden. Das hängt mit mehreren Faktoren zusammen: Erstens, viele Entwicklungsdienstleister haben sich spezialisiert – von der Integration eines neuen Radarsensors in ein bestehendes Fahrzeugsystem bis hin zur Entwicklung eines kompletten Fahrzeugderivats. Als Hersteller formulieren wir eine Strategie für die Eigen- und Fremdleistungen. Dabei besteht schon seit Längerem der Trend, dass technische Wertschöpfung vermehrt bei Entwicklungsdienstleistern stattfindet. Zweitens, wir haben die grosse Herausforderung, in Deutschland und in Mitteleuropa qualifiziertes Personal zu finden. Der bestehende Mangel an Experten führt dazu, dass wir verstärkt dort hingehen müssen, wo gut ausgebildete Mitarbeiter zu finden sind. Dazu gehört auch China, wo es viele Informatiker, Elektrotechniker und Maschinenbauer gibt. Indien ist bezüglich Software-Kompetenz sehr stark, genauso Teile Osteuropas. Es ist nur bedingt möglich, all diese Talente nach Mitteleuropa zu holen. Stattdessen müssen die Unternehmen dort hingehen, wo die gesuchten Talente vorhanden sind. Auch über Tech-Partner wie Porsche Engineering.
Kann der Einsatz von KI und datengetriebener Entwicklung helfen, diesen Mangel an Experten zu lindern?
Steiner: Datengetriebene Entwicklung ist unverzichtbar, um die zunehmende Komplexität beherrschbar zu machen. Auch weil Computer in der Mustererkennung sehr viel besser sind als Menschen, müssen wir diesen Ansatz nutzen. Dabei gibt es einen positiven Nebeneffekt: Wenn wir stärker datengetrieben entwickeln und mit KI-Methoden Fehler und Anomalien finden, können wir vielleicht auch automatisiert Lösungen optimieren – also Entwicklungstätigkeit rechnergestützt durchführen. Und wir könnten perspektivisch auch in einem Netzwerk von Entwicklungs-Hubs rund um die Welt besser örtlich verteilt arbeiten. Nicht alles wird von heute auf morgen datengestützt und virtuell gehen, aber wahrscheinlich mehr und mehr.
„Wir verbinden virtuelle, algorithmische und datengetriebene Entwicklung mit der realen Welt.“ Markus-Christian Eberl
Eberl: Um genau das zu ermöglichen, investieren wir nicht nur mit Blick auf die konkrete Kundennachfrage, sondern aus innerer Überzeugung in unsere eigene Methodenfähigkeit. Ich möchte exemplarisch die JUPITER-Versuchsfahrzeuge nennen, in die wir zum Beispiel auf Basis standardisierter Middleware wie ROS und DDS sehr schnell neue Sensorik für das automatisierte Fahren integrieren und testen können. Mithilfe von Code-Bibliotheken können wir rasch auf diese Sensoren beziehungsweise deren Daten zugreifen, etwa um neue Algorithmen zu erstellen und auszuprobieren. Das tun wir, weil wir davon überzeugt sind, dass die datengetriebene Entwicklung in der kompletten Pipeline von der Sammlung bis hin zur Speicherung und der Beherrschung von Daten eine massgebliche Rolle spielen wird. Darum rüsten wir auch das Testgelände in Nardò weiter auf, wo bereits heute ein hochleistungsfähiges 5G-Netz zur Verfügung steht. Mithilfe dessen können wir beispielsweise unsere Kunden mit Cloud-basierten Datendiensten unterstützen, sodass deren Entwickler nicht nur vor Ort, sondern weltweit direkt und schnell auf neu generierte Daten zugreifen können.
Steiner: Dass wir in Echtzeit auf Daten von Fahrzeugen auf einer Teststrecke wie in Nardò hier in Weissach zugreifen können, mit hoher Bandbreite, das ist etwas, von dem wir lange geträumt haben. Und dieser Traum wird jetzt wahr.
Herr Steiner, lassen Sie uns 20 Jahre in die Zukunft blicken. Was wird in einem Porsche dann anders sein als heute? Und was wird gleich bleiben?
Steiner: Manches wird gleich bleiben oder sich schrittweise weiter verbessern: Wir werden zum Beispiel weiter daran arbeiten, dass das Fahrzeug alle Wünsche des Fahrers noch präziser und sportlicher umsetzt – egal, ob am Lenkrad, auf der Bremse oder auf dem Fahrpedal. Manches wird sich aber auch grundlegend verändern, etwa die Interaktion mit dem Fahrzeug: Sie wird mehr über natürliche Sprache stattfinden, mit deren Hilfe der Fahrer Komfort- oder Bürofunktionen aufrufen kann. Wahrscheinlich werden auch Videokonferenzen eine Selbstverständlichkeit sein. Möglich wird das durch eine mindestens doppelt redundante Konnektivität in die Welt. Wahrscheinlich werden die Fahrzeuge auch untereinander kommunizieren, vielleicht über 6G- oder 7G-Netzwerke.
„Das ‚Software-defined-Vehicle‘ wird mehr und mehr die Automobilindustrie beeinflussen.“ Michael Steiner
Des Weiteren werden die Fahrzeuge auch Energie intelligenter speichern und nutzen. Fortschritte in der Zellchemie werden dazu führen, dass die Batterien kleiner und günstiger werden. Auch ihr initialer CO₂ Footprint dürfte sich verkleinern – ebenso wie bei den Kunststoffen sowie bei Aluminium und Stahl. Grüner Stahl dürfte beispielsweise in Zukunft State of the Art werden, hoffentlich auch grünes Aluminium. Vor wenigen Wochen erst sind wir dazu eine neue Partnerschaft mit dem norwegischen Unternehmen Hydro eingegangen, das gemeinsam mit uns daran arbeiten wird, den CO₂-Fussabdruck unserer Fahrzeuge im Hinblick auf den Einsatz von Aluminium weiter zu reduzieren. Und natürlich wird ein Porsche in 20 Jahren auch selbst fahren können, zumindest in den allermeisten Situationen. Gleichzeitig soll das Fahren dann aber auch mindestens genauso viel Spass machen wie heute, denn wir wollen die Performance von heutigen Supersportwagen in normale Porsche-Fahrzeuge bringen.
Info
Text erstmals erschienen im Porsche Engineering Magazin, Ausgabe 2/2023
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