Sprunginnovationen optimieren nicht. Sie schaffen neue, bessere Lösungen. Eine Sprunginnovation verändert unser Leben grundlegend zum Besseren und macht es nicht nur ein wenig bequemer – so wie die erste Kulturpflanze, das Einkorn, vor rund 10.000 Jahren. Mit dem ersten Getreide begann der Ackerbau – und die Menschen wurden sesshaft. Die Erfindung des Segelboots vor 6.000 Jahren hat die Welt verändert, wie später der Nagel, der Zement, der Buchdruck und optische Linsen. Die Digitalcomputer der 1940er-Jahre lösten die digitale Revolution und eine Reihe von Sprunginnovationen aus, darunter Mikrochips, den PC und natürlich das Internet, das unser Leben in den letzten drei Jahrzehnten so stark verändert hat wie keine andere neue Technologie. Mit der aktuellen Sprunginnovation der mRNA-Impfstoffe können wir uns gegen neue Epidemien wappnen.
Was kommt als Nächstes? Niemand kann es sicher wissen, denn die Unberechenbarkeit liegt im Wesen der Sprunginnovation. Wohl aber können Individuen, Gesellschaften und Staaten ihr auf die Sprünge helfen – und zudem dabei auch sicherstellen, dass neue Technologie mehr nützt als schadet. Drei Hebel sind hier besonders wirksam:
→ ERSTENS: Die hochinnovativen Menschen brauchen mehr Förderung und Freiraum. Sprunginnovationen werden oft von „Nerds mit Mission“ in die Welt gebracht. Bei der Bundesagentur für Sprunginnovation nennen wir sie „High Potentials“ („HiPos“). Sie haben in der Regel drei herausragende Eigenschaften: ein extremes, oft obsessives Interesse auf ihrem Fachgebiet, eine hohe Resilienz bei Rückschlägen und einen tief verwurzelten Wunsch, eine Wirkung für die Welt zu erzielen. Ganz einfach im sozialen Umgang sind diese Charaktere oft nicht. Bildungssysteme müssen von frühem Alter an Freiräume und Fördermöglichkeiten für „HiPos“ schaffen, die quer zur Mehrheitsmeinung denken. Denn die Mehrheitsmeinung bringt keine Innovationen hervor. Bei vielen schulischen und universitären Förderprogrammen fallen jedoch sozial unangepasste Hochbegabte durchs Raster.
→ ZWEITENS: Risikokapital muss seinem Namen (wieder) gerecht werden. Für digitale Plattformen, oft Kopien von anderswo erprobten Geschäftsmodellen, steht weltweit nahezu unbegrenztes Risikokapital zur Verfügung. Das ist nachvollziehbar: Denn in der Regel ist das Risiko für die Investoren ziemlich gut berechenbar. Doch wo immer grosse Sprünge mit „Deep Tech“ nach vorne unternommen werden, beispielsweise bei Klimatechnologien und Biotech, fehlt es an Kapital. Staat und Markt müssen hier Hand in Hand bessere Finanzierungsbedingungen für Sprunginnovatoren schaffen. Der Staat hat hierzu die Möglichkeit – durch intelligente Steueranreize, seine Einkaufsmacht (Aufträge für neue Technologien, die noch ausentwickelt werden müssen) und durch den Abbau von Bürokratie, unter anderem bei der Ausgründung von wissenschaftsnahen Start-ups aus Universitäten und öffentlich finanzierten Forschungseinrichtungen. Die Risikokapitalgeber könnten sich öfter fragen, welche Wirkung sie ausser kurzfristiger Rendite mit ihren Investitionen erzielen möchten. Die wachsende Anzahl an sogenannten „Impact-Investoren“ ist hier ein ermutigendes Signal.
„Wir sind davon überzeugt, dass Wissenschaft und Technik Antworten auf die grossen Herausforderungen unserer Zeit finden werden.“ Rafael Laguna de la Vera und Thomas Ramge
→ DRITTENS: Wir müssen als Gesellschaft unser Verständnis dafür schärfen, welche Art von Innovationen wir auf Grundlage welcher Werte künftig entwickeln wollen. Hier brauchen wir das Rad nicht neu zu erfinden. Die Philosophie der Aufklärung gibt die Richtung vor. Ziel sind sprunghafte Innovationen, die das Leben einer grösstmöglichen Anzahl von Menschen in grösstmöglichem Umfang besser machen. Sinnvollen und sinnstiftenden Nutzen finden wir, wenn wir den Fokus auf menschliche Bedürfnisse richten, von basalen Lebensgrundlagen bis zur Möglichkeit zu individueller Selbstverwirklichung. Die „Bedürfnispyramide“ des Psychologen Abraham Maslow mit ihren unterschiedlichen Ebenen von den Grundbedürfnissen bis hin zur Selbstverwirklichung gibt hier wertvolle Hinweise, ebenso die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen.
Wohin uns das führen wird? Wir als Technikoptimisten sind davon überzeugt, dass Wissenschaft und Technik in den kommenden Jahrzehnten viele Antworten auf die grossen Herausforderungen unserer Zeit finden werden. Sie werden uns grüne Energie aus Wind und Sonne, Wasserkraft und Kernfusion im Überfluss bringen. Diese könnte so günstig sein, dass es sich kaum noch lohnt, sie abzurechnen.
Durch CO₂-freie Energie für weniger als zwei Cent pro kWh lassen sich Armut und Hunger weltweit radikal senken. Mit ihr können wir der Atmosphäre in grossen Mengen Kohlendioxid entziehen und den Klimawandel aufhalten. Die Welt wird dadurch deutlich friedlicher werden. Forschende der Biomedizin verstehen derweil den Bauplan des Lebens immer besser. Mithilfe von Gentechnologie und Gesundheitsdatenrevolution stehen wir an der wissenschaftlichen Schwelle, die grossen Krankheiten zu besiegen: Krebs und Demenz, Herz- Kreislauf-Erkrankungen und Autoimmunkrankheiten, psychische Erkrankungen und Lähmungen, Blindheit und schwere Hörschäden. Wir hoffen, dass es gelingt, den Alterungsprozess der Zellen deutlich zu verlangsamen, damit wir gesünder älter werden können. Und vielleicht sogar Zeit mit Ururenkeln zu verbringen. Wir werden in den kommenden 20 Jahren ein System entwickeln, um grosse Asteroiden umzulenken, die auf die Erde zusteuern. Und obwohl zumindest einer von uns beiden Autoren nicht bereit wäre mitzufliegen: Wir hoffen, dass wir bis 2050 eine dauerhafte Kolonie auf dem Mars gründen. Warum? Weil das uns Menschen helfen wird, unseren alten Entdeckergeist neu zu entdecken und wieder den Mut zu entwickeln, wirklich grosse Sprünge zu wagen.
Die Autoren
Rafael Laguna de la Vera ist Gründungsdirektor der Bundesagentur für Sprunginnovationen.
Thomas Ramge ist Buchautor und Keynote-Speaker. Kürzlich erschien im Econ-Verlag ihr Buch „Sprunginnovation – Wie wir mit Wissenschaft und Technik die Welt wieder in Balance bekommen“.
Info
Text erstmals erschienen im Porsche Engineering Magazin, Ausgabe 2/2022.
Autoren: Rafael Laguna de la Vera und Thomas Ramge
Fotos: Mattia Balsamini / SPRIND GmbH
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