Coming Rome
Bei einem Rendezvous in Rom verschmelzen Geschichte und Gegenwart des Porsche Kundensports. Marc Lieb bewegt eine der bedeutendsten Rennversionen des Porsche 356. Herbert Linge steuert die Erinnerungen an die Geburt der „V2“ bei.
Piazzale Giuseppe Garibaldi. Marc Lieb führt einen dampfenden Espresso an die Lippen, genießt und staunt. Vor ihm färbt sich die ewige Stadt in ein glühendes Morgenrot. Er ist zum ersten Mal in Rom und nicht allein. Er lehnt sich an die Schönheit neben ihm. Ihr Kosename lautet „V2“ – und sie hat über eine halbe Million Kilometer auf dem Tacho. Ausgeschrieben heißt sie Porsche 356 A 1600 GS Carrera GT. Ihr liebevoller Spitzname rührt vom amtlichen Kennzeichen „WN-V2“ her. Im Motorsport ist der Wagen eine Legende: Bei allen wichtigen europäischen Sportwagenrennen und Rallyes seiner Zeit war er am Start. Die lange Liste seiner Einsätze umfasst Wettbewerbe wie die Mille Miglia in Italien, das 1.000-Kilometer-Rennen auf dem Nürburgring und die Targa Florio auf Sizilien.
„Herberts Wissen ist ein unendlicher Schatz.“ Marc Lieb
Die „V2“ kann auf mehr als 200 km/h beschleunigen. Lieb ist Le-Mans-Gesamtsieger und Langstrecken-Weltmeister. Die beiden sind ein schnelles Paar. Dennoch beginnt diese Christophorus-Geschichte mit einer erheblichen Verspätung: 62 Jahre.
Rückblende. 1959 ist die Rallye Lüttich–Rom–Lüttich eines der härtesten Straßenrennen der Welt. Mehr als 5.000 Kilometer nonstop. Die Schnittvorgaben des Veranstalters, der Royal Motor Union in Belgien, sind auch auf den sogenannten Verbindungsetappen nicht zu schaffen. Von 104 Startern erreichen lediglich 14 das Ziel, keiner bleibt ohne Strafpunkte.
Die Gesamtsieger in jenem Jahr heißen Paul Ernst Strähle und Robert Buchet. 86 Stunden lang haben sie sich am Steuer abgewechselt. Es ist der größte Erfolg für Strähle, damals einer der prominentesten deutschen Privatfahrer auf Porsche. Und es ist der größte Sieg für diesen berühmten 356. Der Name der Rallye indes war 1959 ein Etikettenschwindel. Die Römer mochten in der Ferienzeit keine Rennwagen mehr in der Stadt, deshalb wurde die Route mehrfach geändert und der Wendepunkt bis ins damalige Jugoslawien verlegt.
Jetzt aber hat die V2 die italienische Hauptstadt erreicht. Lieb ist verliebt. In die Metropole, in den Klang des Carrera-Motors und in das unprätentiöse Handling des Schmuckstücks. Er weiß um die Bedeutung des Wagens. Als er 2016 seine 14-jährige Porsche-Werksfahrerkarriere mit dem Gesamtsieg in Le Mans und dem WM-Titel gekrönt hatte, wechselte er in die Kundensportbetreuung. Sein großes Vorbild: Herbert Linge. „Eindeutig der coolste Mann, den ich je kennengelernt habe!“, schwärmt der 40-jährige Lieb. Linge ist Jahrgang 1928. Sein ganzes Arbeitsleben hat er Porsche gewidmet. 1943 begann er als Lehrling, wurde Rennmechaniker, Rennfahrer, baute den Kundendienst in den USA auf und war schließlich eine Instanz in der Entwicklung.
„Lüttich–Rom–Lüttich überstand man nur als gutes Team.“ Herbert Linge
Nebenbei doubelte er Steve McQueen bei den Fahrszenen für den Film Le Mans, fand das Grundstück für das Prüfgelände Weissach und erhielt als Gründer der ONS-Staffel das Bundesverdienstkreuz. Er wusste genau, weshalb er sich in der Obersten Nationalen Sportkommission (ONS) für mehr Sicherheit im Rennsport einsetzte. „Lüttich–Rom–Lüttich fuhren wir Tag und Nacht volles Rohr, es war nichts abgesperrt – absolut verrückt, heute unvorstellbar“, erinnert er sich an die legendäre Rallye. 1954 gewann er sie mit Helmut Polensky. Später bestritt er dieses und viele andere Straßenrennen gemeinsam mit seinem Freund Paul Ernst Strähle. „Lüttich–Rom–Lüttich überstand man nur als gutes Team“, erzählt Linge. „Wir haben uns etwa alle drei Stunden abgewechselt. Als Beifahrer musste man schlafen können. Strähle konnte das. An Kontrollpunkten habe ich mir manchmal seinen Hut aufgesetzt und für ihn unterschrieben, das hat er gar nicht mitbekommen. Ich hingegen habe kaum ein Auge zugemacht.“
Vom Schlaf hielt Linge nicht nur das waghalsige Tempo über schmale Straßen und geschotterte Pässe ab. Mit allen Sinnen spürte er in den technischen Zustand der V2 hinein. Er kannte jede Schraube. Die frühen 356 fuhr Linge alle Probe. „Man wusste, dass ich aus Motorradrennen gewisse Vorkenntnisse besaß, deshalb wurde ich damit betraut. Anfangs haben wir drei bis vier Autos pro Tag gebaut. Nach der Probefahrt musste ich Ferry Porsche am Abend berichten, welche von denen in Ordnung waren und welche noch einmal zurück in die Werkstatt mussten.“ Bei den Renn- und Rallyefahrern des Werks sprach sich Linges Können als Mechaniker herum und machte ihn 1954 zum begehrten Langstreckenbeifahrer. „Sie haben dem Herrn Porsche gesagt: ‚Wenn der Linge dabei ist, richtet der alles.‘“
Dass der gebürtige Weissacher selbst ein Spitzenpilot war, sollte sich rasch herausstellen. Plus: Er war für seinen materialschonenden Fahrstil bekannt. Auch vom Beifahrersitz aus predigte er sanfte Gangwechsel. „Die Synchronringe waren anfällig!“ Wie selbstverständlich wechselte Linge auf 5.000 Kilometern vier- bis fünfmal die Bremsbeläge. „Vor den Bergprüfungen mindestens die vorderen. Wenn die halb abgenutzt waren, verzog das Auto. Wir hatten ja noch keine Scheibenbremsen, sondern Trommeln.“ Der in seiner Hochphase 125 PS starke 1,6-Liter-Motor mit vier obenliegenden, über Königswellen angetriebenen Nockenwellen verschliss Zündkerzen. „Vor jeder Verbindungsetappe, wenn wir ein paar Minuten Vorsprung hatten, habe ich eine Kerze gewechselt. Mehr ging nicht auf einmal, sonst wären wir in Rückstand geraten.“
Man muss sich die Rahmenbedingungen von damals vor Augen führen: Manche Straßenrennen waren sogar Weltmeisterschaftsläufe und die Besatzung fuhr mit der V2 von Stuttgart aus selbst ins europäische Ausland auf Achse zum Start. Und anschließend wieder nach Hause. Diese Kilometer kamen hinzu. Außerdem war das Tankstellennetz noch bestenfalls grobmaschig. Linge sorgte vor: „Auf den Sonderprüfungen wollten wir immer möglichst wenig Kraftstoffgewicht im Auto haben. Mechaniker fuhren mit einem VW-Bus voraus und stellten für uns an abgesprochenen Stellen 20-Liter-Benzinkanister an den Straßenrand. Einfach so, da hat keiner geklaut. Wir unterstützten uns gegenseitig. Wenn andere nicht zurechtkamen, habe ich ihnen geholfen.“ Dass er selbst einmal Hilfe brauchte, begründete seine Freundschaft mit Paul Ernst Strähle.
Linge hatte immer Rückendeckung von seinen Chefs. So kam es, dass er sich 1952 übers Wochenende einen firmeneigenen VW-Bus ausleihen durfte. Als er damit liegen blieb, wurde er an die Werkstatt der Familie Strähle in Schorndorf verwiesen und hatte Glück: Der Junior-Chef Paul Ernst half ihm, den „Bulli“ wieder flottzumachen. Einige Wochen später das nächste zufällige Zusammentreffen. Diesmal zog Strähle die Motorräder von Linge und dessen Freunden mit seinem VW „Käfer“ aus einem Schlammloch, in dem die Truppe bei einer Rallye stecken geblieben war. Klar, dass Linge ihm anbot, er möge sich melden, wenn er sich in Sachen Porsche revanchieren könne.
„Kundensport war immer eine Vorgabe. Da legte Ferry Porsche großen Wert drauf.“ Herbert Linge
1956 erwarb Paul Ernst Strähle, mittlerweile ein gestandener Lenkradkünstler, einen gebrauchten 356 – und war dennoch nicht konkurrenzfähig. Mit seinem 1,3-Liter-Motor hatte er partout keine Chance gegen jene 356, die schon den Carrera-Motor aus dem Porsche 550 Spyder im Heck hatten. Die neue Messlatte legte der Porsche 356 A 1500 GS Carrera mit 100 PS, 850 Kilogramm Gesamtgewicht, 200 km/h Höchstgeschwindigkeit und einem Spurt von 0 auf 100 km/h in zwölf Sekunden. Obendrein wusste Strähle, dass Porsche einen GS Carrera GT plante. Das Kürzel GS stand für Gran Sport, GT für Gran Turismo. Die geplante GT-Version implizierte zahlreiche Leichtbauteile, einen Rennauspuff und auf Wunsch einen größeren Tank für die Langstreckenrennen. Keinen dieser Buchstaben konnte sich Strähle leisten. Aber er kannte Linge und erfuhr, dass ein Unfallwagen mit dem gewünschten Motor zum Verkauf stand. Auch Fahrwerk und Getriebe waren noch brauchbar, das Chassis hingegen ein Brandschaden. Eigentlich sollte der Wagen ausgebeint werden. Doch dann fragte Strähle bei Porsche eine neue Ersatzkarosse an, die mit Ferry Porsches Segen bei Reutter bestellt wurde. Dank der Zustimmung von ganz oben erhielt Strähle eine Vorserienvariante des GS Carrera GT in der Wunschfarbe Adriablau. „Die Schwangerschaftsphase der V2“, nannte der 2010 im Alter von 83 Jahren verstorbene Paul Ernst Strähle diese Zeit einmal.
Geboren wurde ein Rennwagen, in dem nur Gutes verbaut wurde, und selbst das verbesserten die beiden Freunde über die Jahre immer weiter. Nach Feierabend fuhr Herbert Linge zum Schrauben in die Strähle-Werkstatt. 1957 kam durch seine Mithilfe der neue 1,6-Liter-Carrera-Motor in den Wagen. Linge freut sich noch heute wie ein Lausbub, wenn er sagt: „Wir haben immer Topmaterial gehabt! Manchmal konnten wir Dinge einbauen, die das Werk noch nicht fertig ausgetestet hatte. Stoßdämpfer und solche Sachen.“ Als Testfahrer wusste er um die Vorteile mancher Komponenten. 1957 erzielten die beiden als Gesamtvierzehnte und Klassenbeste bei der Mille Miglia den ersten Sieg für die V2. Es sollten viele folgen, bis Strähle 1964 den Rennsport aufgab.
Zwar war Linge damals nicht mit jedem Porsche-Rennwagen so vertraut wie mit der V2, aber er betont: „Kundensport war immer eine Vorgabe. Jeder Rennwagentyp musste verkäuflich sein. Wir bauten sofort 20 oder 30 Stück, sogar der Porsche 917 war ein Kundenauto. Da legte Ferry Porsche großen Wert drauf. Reklame war verboten. Er hat immer gesagt: ‚Unser Aushängeschild ist der Sport.‘“ An der Bedeutung des Rennsports für die Marke hat sich bis heute nichts geändert.
Selbst im Ruhestand verfolgte Linge, wie Marc Lieb im Porsche Carrera Cup Deutschland – einst von Linge geleitet – glänzte, dann vom Kunden- in den Werkssport aufstieg und auf der ganzen Welt Siege und Titel holte. „Bei jedem Treffen habe ich von Herbert gelernt – sein Wissen ist ein unendlicher Schatz“, sagt Lieb. Der studierte Fahrzeugtechnik-Ingenieur schaut in den Rückspiegel und setzt den Blinker zum Kolosseum. Das große Lenkrad der V2 ist umgeben von Spezialinstrumenten, die Linge und Strähle eingebaut haben. Am Drehzahlmesser klebt noch die Markierung bei 3.500/min. Weniger Touren mag der Carrera-Motor nicht, das hat auch Lieb bereits festgestellt. „Porsche baut heute zwischen 250 und 300 Kundensportfahrzeuge pro Jahr, aber die Philosophie ist dieselbe wie damals“, erzählt er weiter. „Man verkauft nicht nur Autos, es geht um strategische Projektplanung. Wer sich für ein Modell interessiert – vom Porsche 718 Cayman GT4 Clubsport bis zum Porsche 911 RSR, wie ihn auch das Werksteam einsetzt –, hat nicht nur technische Fragen. Er will Empfehlungen für Einsatzmöglichkeiten, wissen, welcher Werksfahrer zur Verfügung steht und welche technische Unterstützung es gibt.“
Das Kürzel der Abteilung EMV steht für Entwicklung, Motorsport und Vertrieb. In der Porsche-Mengenlehre ist sie genau für die Schnittmenge dieser drei Bereiche zuständig. Und zwar weltweit bis hinein in die Marktorganisationen und zu Regionalbetreuern. Bei EMV startete Lieb 2017 seine zweite Porsche-Karriere. „Wie früher bei Herbert geht es um ein gemeinsames Ziel mit den Kunden und das heißt Rennen gewinnen.“ Die privaten Rennfahrer der Gegenwart sind, wie einst Strähle, wertvolle Botschafter der Marke und haben einen direkten Draht ins Unternehmen. Key-Account-Manager halten heute den Kontakt, ähnlich wie Linge vor mehr als 60 Jahren. Und als im Rennsportkosmos ausgesetzte Satelliten funken Porsche-Ingenieure das ungefilterte Kundenfeedback direkt nach Weissach. Heute wie damals profitieren beide Seiten.
Marc Lieb steuert die V2 zügig in Richtung des südlichen Stadtrands. Er schwimmt mit dem millionenteuren Juwel durch den Verkehr, schaltet gefühlvoll, aber flott; runter immer mit ein bisschen Zwischengas. Anders als 1959 sind kaum Touristen in der Stadt. Passanten winken ihm zu, zwei Polizisten recken die Daumen nach oben, als die bella macchina an ihnen mit sattem Sound vorbeimusiziert. Die Bauwerke entlang der Via Appia Antica wirken als Resonanzkörper. Lieb atmet tief ein, als wolle er die über 2.000-jährige Historie dieser Straße aufsaugen. „Alles, was wir sind, ist eine Weiterentwicklung aus der Geschichte.“ Die V2 ist in Rom angekommen und er in der V2. „500.000 Kilometer Laufleistung, die alten Sitze, das Cockpit – alles ist anders und doch so vertraut. Du fährst los und spürst sofort: Das ist ein Porsche!“
SideKICK: Pyramide des Kundensports
Der bis heute meistverkaufte Rennwagen der Welt ist der Porsche 911 GT3 Cup. Seine jüngste Ausführung für die Saison 2021 (Foto) basiert auf der aktuellen Elfer-Generation. Erstmals mit turbobreiter Karosserie und einer Leistung von rund 375 kW (510 PS) starten Kundenteams mit diesem Rennwagen im Porsche Mobil 1 Supercup und auch bereits in mehreren der nationalen Porsche Carrera Cups.
Die aktuelle Pyramide der Porsche-Kundensportfahrzeuge beginnt mit dem 718 Cayman GT4 Clubsport und führt weiter hoch zum 911 GT2 RS Clubsport. Der 2018 präsentierte und in einer Kleinserie von 77 Exemplaren gefertigte Porsche 935 von 2019 ist als Hommage an den berühmten Vorgänger ebenfalls in Händen schneller Kunden. Auf den Cup-Elfer folgt der 911 GT3 R, mit dem etablierte Teams in internationalen Rennserien starten. Der Porsche 911 RSR bildet die Spitze. Ihn setzt auch das Werksteam in der Weltmeisterschaft ein.