Am Limit

Der Porsche 919 Hybrid und der 917 dominierten die Rennen ihrer Zeit. Mit der Konstruktion einer Spitzenversion beendeten die Ingenieure jeweils eine Ära. Ein Treffen der beiden ultimativen Fahrmaschinen – die trotz ihres Altersunterschieds viel verbindet.

Binnen weniger Stunden knackt das Youtube-Video die Millionengrenze: Die On-Board-Aufzeichnung von Timo Bernhards Rekordrunde auf der Nordschleife des Nürburgrings verschlägt der Fachwelt die Sprache. Der zweimalige Le-Mans-Sieger und Langstrecken-Weltmeister hat den legendären 20,8 Kilometer langen Parcours mit der Evo-Version des Porsche 919 Hybrid in 5:19,55 Minuten umrundet. 

Die Fabelzeit von Timo Bernhard: 5:19,55 Minuten. Die Formel-1-Welt gratuliert. Sie kennt den Evo schon.

Rekord:

Rekord:

Timo Bernhard sicherte sich mit dem Porsche 919 Hybrid Evo auf der Nordschleife seinen Platz in den Geschichtsbüchern. Sein Spitzenwert auf der Nordschleife: 369,4 km/h.

Am 29. Juni 2018 erreicht er in der „Grünen Hölle“ eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 233,8 km/h und einen Spitzenwert von 369,4 km/h. Die Formel-1-Welt gratuliert. Sie kennt den Evo schon: Bereits im April unterbot Neel Jani damit in Spa-Francorchamps den bisherigen Rundenrekord der Königsklasse. „The Beast“, wie er in England heißt, ist eine Weiterentwicklung des Le-Mans-Prototypen, mit dem Porsche in den Jahren 2015 bis 2017 drei Mal hintereinander den 24-Stunden-Klassiker sowie die Hersteller- und Fahrerweltmeisterschaft in der Langstrecken-WM gewann. Am Ende dieser Karriere erhielten die Ingenieure grünes Licht, ihn von den Fesseln des Reglements zu befreien, damit er zeigen kann, was noch alles in ihm steckt. 

Bei der Genese des Evo spielt eine erbliche Vorgeschichte eine Rolle. 1973 hatte Porsche schon einmal einen Siegertypen auf links gedreht – aus dem 917 wurde der 917/30. Hintergrund war damals eine derart erdrückende Dominanz des 917, dass die Sportbehörde eingriff. Porsche hatte 1970 und 1971 den Markentitel in der Sportwagen-Weltmeisterschaft gewonnen. 15 Langstreckenerfolge, darunter die ersten beiden Gesamtsiege der Marke bei den 24 Stunden von Le Mans, hat der 917 auf dem Konto, als sein fünf Liter großer Zwölfzylindermotor 1972 nicht mehr zugelassen wird.


Porsche findet ein neues Betätigungsfeld. Längst ist Nordamerika zum wichtigsten Einzelmarkt der Sportwagenschmiede avanciert und der Canadian-American Challenge Cup, kurz CanAm, zu einer attraktiven Rennserie. Um dort gegen die vorherrschenden McLaren mit ihren 800 PS starken V8-Motoren von Chevrolet zu bestehen, reicht der V12-Saugmotor des 917 nicht aus. Leistungssteigerung per Turboaufladung ist noch ein weithin unerschlossenes Gebiet, das Porsche nun erforscht. Mit dabei: der US-Amerikaner Mark Donohue, erfolgreicher Rennfahrer und Ingenieur. Der damals 34-Jährige wird Entwicklungs- und Einsatzfahrer. 1972 gewinnt der rund 1.000 PS starke 917/10 TC Spyder („TC“ steht für „Turbo Charged“, „Spyder“ für das nun offene Cockpit) sechs CanAm-Läufe und den Titel.

Als die Wettbewerber für die Motorsportsaison 1973 aufrüsten, antwortet Porsche mit dem 917/30. Donohues Verbesserungswünsche gehen ans Eingemachte, machen selbst vor dem Radstand nicht halt. Dieser wird von 2.310 auf 2.500 Millimeter verlängert. Hinzu kommen eine gestrecktere Frontpartie und ein weit hinausragender Heckflügel – aerodynamische Maßnahmen, mit denen Porsche noch wenig Erfahrung besitzt. In Le Mans muss der Luftwiderstand zugunsten der Höchstgeschwindigkeit möglichst gering sein, in Nordamerika ist maximaler Abtrieb gefragt. Irgendwie soll die monumentale Motorleistung auf den Boden gebracht werden, denn der V12 entfacht jetzt 1.100 PS in dem 800 Kilogramm leichten Spyder.


Dabei stellte das Ansprechverhalten des Turbos eine immense Aufgabe für die Ingenieure dar: Der nunmehr 5,4 Liter große Motor entfaltet seine Leistung erst spät, dann aber brachial. Mit vielen Detaillösungen im Ansaugsystem versucht Porsche, das Problem in den Griff zu bekommen. Im spartanischen Cockpit darf Donohue nun an einem Dampfrad drehen, um den Ladedruck des V12 zu domestizieren. Beim Start kann er ihn hochdrehen und im Rennverlauf wieder herunter. Das schont den Motor und spart Benzin. Der Durst des V12-Motors ist beachtlich, weshalb der Tank des 917/30 bis zu 440 Liter Benzin fasst.

Mit dem stärksten 917 seiner Zeit gewinnt Mark Donohue 1973 überlegen die CanAm-Serie.

Ultimative Aufrüstung:

Ultimative Aufrüstung:

Der 917/30 ist die letzte Ausbaustufe des 917. Mit Turboaufladung für den auf 5,4 Liter vergrößerten V12, Aerodynamik-Maßnahmen und längerem Radstand wird er unschlagbar. Im Hintergrund zu sehen: der 919 Hybrid Evo.

Porsche 917/30 CanAm-Spyder

Motor: Luftgekühlter V-Turbomotor (180°)
Zylinder: 12
Hubraum: 5.374 cm3
Leistung: 1.100 PS bei 7.800/min
Gewicht: 800 kg
Stückzahl: 2
Baujahr: 1973

Mark Donohue ist der einzige Fahrer, der diesen Supersportwagen im Werkseinsatz bewegt. 1973 gewinnt er sechs von acht Rennen der CanAm-Serie und fährt den Meistertitel ein. Dann wiederholt sich die Geschichte. Erneut sorgt eine Reglementänderung dafür, dass der überlegene Rennwagen außen vor bleibt. Aus und vorbei? Nein. Am 9. August 1975 hat der 917/30 noch einen letzten fulminanten Auftritt: Auf dem 4,28 Kilometer langen Superspeedway in Talladega im US-Bundesstaat Alabama stellt Donohue mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 355,86 km/h einen Weltrekord auf, der elf Jahre bestehen bleiben sollte. Dank erstmals eingesetzter Ladeluftkühler leistet der V12-Motor 1.230 PS.

So wenig wie Porsche bei der Entwicklung des 917 an eine Rekordjagd im steilen Oval gedacht hatte, so wenig war der Porsche 919 Hybrid für die Nordschleife prädestiniert. Die Parallelen der Ikonen reichen von der Wiege bis zur Rekordfahrt: Beide wurden auf dem Genfer Automobilsalon vorgestellt – nur diese beiden Male rückte Porsche einen Rennwagen ins Zentrum des Markenauftritts. Beide waren die innovativsten und überlegenen Rennwagen ihrer Zeit, und beider Entstehung wohnte eine gehörige Portion Mut inne. Das gilt für Ferdinand Piëchs Entschlossenheit, 1969 trotz wirtschaftlicher Risiken die nötigen 25 Exemplare zur Homologation des 917 zu bauen, ebenso wie für die Porsche-Vorstandsentscheidung, 2014 mit einem technologisch extrem anspruchsvollen Hybridfahrzeug nach Le Mans und in die Sportwagen-WM zurückzukehren.

Anders als bei der Entwicklung des 917/30 bleibt bei der Evo-Version des 919 die Hardware des Antriebsstrangs unangetastet. Auch weiterhin treibt der nur 2,0 Liter große V4-Turbo die Hinterachse an – allerdings befreit von der Kraftstoffbegrenzung, der er bislang unterlag. Auf diese Weise und mit einiger Softwareunterstützung entwickelt der Verbrennungsmotor im Evo 720 statt 500 PS. Massive Unterstützung kommt von den beiden Energierückgewinnungssystemen, die an der Vorderachse Bremsenergie sowie durch eine Zusatzturbine im Abgastrakt Energie sammeln und in einer Lithium-Ionen-Batterie zwischenspeichern. Hatten die WM-Regularien die einsetzbare Energiemenge aus diesen Systemen limitiert, dürfen sie im Evo ihr volles Potenzial entfalten. Nun steuert die E-Maschine an der Vorderachse des Fahrzeugs mit temporärem Allradantrieb 440 PS bei, zehn Prozent mehr als zuvor.

Entfesselt von Reglement-Restriktionen stellt die Evo-Version des dreimaligen Le-Mans-Siegers Rekorde auf.

Auf die Spitze getrieben:

Auf die Spitze getrieben:

Ohne Limitierung von Kraftstoff und E-Leistung erzeugt der Hybridantriebsstrang 1.160 PS. Dank aktiver Aerodynamik generiert der Evo 53 Prozent mehr Abtrieb als der 919 im Renneinsatz. Im Hintergrund zu sehen: der 917/30.

Porsche 919 Hybrid Evo

Verbrennungsmotor: Wassergekühlter V-Turbomotor (90°)
Zylinder: 4
Hubraum: 2.000 cm3
Systemleistung: 1.160 PS
Gewicht: 849 kg
Stückzahl: 1
Baujahr: 2018

Das stolze Ergebnis: eine Systemleistung von 1.160 PS bei einem Fahrzeuggewicht, das von 888 (inklusive Fahrerballast) auf 849 Kilogramm reduziert wurde. Ein Brake-by-Wire-System für alle vier Räder gehört ebenso zur Aufrüstung wie Fahrwerksverstärkungen und von Michelin eigens entwickelte Reifen für dieses Geschoss, das mehr aerodynamischen Abtrieb generiert als ein Formel-1-Rennwagen. Dafür sind der größere Frontdiffusor und der mächtigere Heckflügel mit aktiver Aerodynamik ausgestattet. Ähnlich wie in der Formel 1 stellen Drag-Reduction-Systeme Flügelelemente flach, um den Luftwiderstand auf langen Geraden zu reduzieren. Zudem trägt der ebenfalls aerodynamisch optimierte Unterboden seitliche Schürzen, auch sie steigern den Anpressdruck auf die Fahrbahn und ermöglichen noch höhere Kurvengeschwindigkeiten. Insgesamt entwickelt der Evo 53 Prozent mehr Abtrieb als der 919 im WM-Einsatz. „Wie auf Schienen“, beschreibt Timo Bernhard das Fahrgefühl. Von so einer Straßenlage konnte Donohue bei seinem Husarenritt in Talladega nur träumen.

Heike Hientzsch
Heike Hientzsch