Die 22 Mitgliedsstaaten der European Space Agency (ESA) investieren jedes Jahr viereinhalb Milliarden Euro in die Weltraumforschung. Warum?
Prof. Wörner: Es ist die Neugier, die uns antreibt. Sie hat uns aus den Höhlen geführt und uns zu einer modernen Gesellschaft gemacht. Wir kennen nur einen winzigen Bruchteil des Weltraums – das ist eigentlich schon Grund genug, warum wir weiter forschen sollten. Und wenn wir genau hinsehen, stoßen wir auf immer neue Fragen. Nehmen wir den Urknall: Seit dem Big Bang dehnt sich das Weltall aus. Durch die Schwerkraft müsste diese Bewegung immer langsamer werden. Tatsächlich bremste das Universum lange ab, doch seit ein paar Milliarden Jahren beschleunigt es wieder. Wir sprechen von Dunkler Energie, weil wir nicht wissen, was das Weltall auseinandertreibt. Zusammen mit der Dunklen Materie, der anderen großen Unbekannten, macht diese Energie 96 Prozent des Universums aus. So gesehen haben wir noch gar nichts verstanden.

Tritt die Forschung auf der Stelle?
Der Fortschritt wirkt manchmal bescheiden, aber wir haben schon viel erreicht. Zum Beispiel wären moderne Navigationssysteme, globale TV-Übertragungen oder präzise Wettervorhersagen ohne Satelliten nicht möglich. Wir arbeiten auch daran mit, den Klimawandel besser zu verstehen. Vielleicht finden wir so einen Weg, die Klimaziele wirklich zu erreichen.

Was verstehen Sie unter „Raumfahrt 4.0“?
Ähnlich wie die Industrie hat die Raumfahrt verschiedene Entwicklungsstufen durchlaufen. Angefangen bei der Astronomie von der Erde aus, über den Wettlauf ins All ab den 1950er-Jahren bis zu den internationalen Kooperationen der jüngeren Vergangenheit. Die vierte Stufe wird eine starke Kommerzialisierung und Demokratisierung bringen. Der Zugang zum All, der vor ein paar Jahren noch wenigen Eliten vorbehalten war, ist mittels Daten und Informationen im Internet jetzt auch für Privatpersonen frei verfügbar, etwa über Google Earth. Viele private Firmen entwickeln aus der Raumfahrt neue Geschäftsmodelle, zum Beispiel durch die Erdbeobachtung. In der Landwirtschaft können mit Bildern von der Erde Düngemittel effizienter eingesetzt werden. Ein zweiter Bereich ist der Raumtransport. Unternehmen wie Virgin Galactic bieten bereits suborbitale Raumflüge für Weltraumtouristen an. Die Firma SpaceX will zum Mars fliegen. Privates Investment in der Raumfahrt ist stark im Kommen und wird sie weiterbringen.

Wie hält sich die European Space Agency jung und fit für die Zukunft?
Wir werden nicht mehr in jedem Bereich Mikromanagement betreiben, sondern die Projekte mit klarer Aufgabenteilung zwischen öffentlicher und privater Hand vorantreiben. Im Bereich Telekommunikation arbeiten wir bereits eng und sehr erfolgreich mit Unternehmen zusammen, um neue Produkte zu entwickeln. Ein weiteres Beispiel sind die Ariane-Trägerraketen. Ariane 1 bis 5 wurden von der ESA selbst entwickelt. Bei Ariane 6 haben wir mit den Mitgliedsstaaten zusammen definiert, was die Rakete können muss und wie viel Geld dafür zur Verfügung steht. Und jetzt liegt es an der Industrie, auf dieser Basis eine gute Trägerrakete zu bauen.

Welche Gestaltungsmöglichkeiten bietet die Zusammenarbeit mit Zulieferern?
Wir haben von jedem einzelnen Mitgliedsstaat einen industriepolitischen Auftrag, dem wir gerecht werden müssen. Danach richten wir uns natürlich bei unseren Ausschreibungen. Generell versuchen wir immer, den besten europäischen Anbieter zu beauftragen. In Europa haben wir nur wenige große Unternehmen im Bereich Raumfahrt. Der aktuelle Boom ist hierzulande auch eine Chance für viele kleine, innovative und mittelständische Spezialunternehmen.

Bei den Missionen ins Weltall gab lange die NASA den Ton an. Wo steht die europäische Raumfahrt heute?
Im September 2015 verkündete die NASA, dass man flüssiges Wasser auf dem Mars gefunden habe. Die ESA wies schon vor zehn Jahren Wassereis auf dem Roten Planeten nach. Mit der Rosetta-Mission gelang uns 2014 die erstmalige Landung auf einem Kometen. Die europäische Raumfahrt ist also weltweit sehr relevant. Das Gute an unserer Rolle ist aber, dass wir eine Art Mediator sind. Die ESA hat beste Beziehungen nach Ost und West, so können wir Projekte gemeinsam entwickeln. Bei Rosetta kam zum Beispiel auch amerikanische Technik zum Einsatz, wie bestimmte Sensoren. Und wenn die Amerikaner fliegen, sind wir mit an Bord, beispielsweise mit dem European Service Module des Orion-Raumschiffs.

Welche Kooperationen strebt die Europäische Weltraumorganisation künftig an?
Die internationale Raumstation ISS hat die Forschung weit nach vorne gebracht, aber sie hat nur noch eine Lebensdauer von etwa zehn Jahren. Ein mögliches Folgeprojekt wäre eine Art Moon Village. Das heißt nicht fünf Häuser, eine Kirche und ein Rathaus. Ich habe wirklich schon Anfragen bekommen, in denen sich Leute als Bürgermeister bewerben! Nein, mit Dorf meine ich ein Projekt im All, das von der Erde aus von verschiedenen Akteuren gefördert wird. Ein Projekt, an dem sich verschiedene Länder ohne Zugangsbeschränkung beteiligen können, zum Beispiel mit der Finanzierung eines Raumfahrzeugs oder eines Teleskops oder auch mit Astronautinnen und Astronauten.

Ist es denkbar, dass Menschen dauerhaft im All leben werden?
Das wird sogar nötig werden. Vom Urknall bis heute sind etwa 13,8 Milliarden Jahre vergangen. In einigen Milliarden Jahren wird es auf der Erde zu heiß sein, um hier zu leben. Rechnet man die Zeit seit dem Urknall bis heute auf ein Jahr um, bleibt uns gerade mal noch etwas mehr als ein Monat. Deshalb wird der Mensch die Erde verlassen müssen, wenn er es schafft, dass sie bis zu diesem Datum noch besteht. Aber ich bin überzeugt, dass das viel eher gelingt. In den nächsten hundert Jahren wird es mit Sicherheit eine Station auf einem anderen Himmelskörper geben. Und zwar auf dem Mars.

Wann möchten Sie selbst einmal ins All fliegen?
Ich fliege seit 61 Jahren durchs All – mit dem wunderbaren Raumschiff Erde. Aber ich würde auch gerne einmal die Erde verlassen.

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